Haar
In Haar ist Malen nicht nur Kunst

Eine Kunsttherapeutin gibt Einblicke ins Werk eines psychisch kranken Straftäters

23.10.2016 | Stand 02.12.2020, 19:09 Uhr

Patient Simeon findet auch Käufer: Seine Bilder treffen den Geschmack eines größeren Publikums. - Fotos: Paul

Haar (DK) Einen bewegenden Einblick in das Innenleben und künstlerische Schaffen seelisch Kranker - darunter auch ein in der Forensik einsitzender Straftäter - gab jetzt die Münchner Malerin und Kunst-Therapeutin Reinhild Gerum in der Psychiatrie in Haar.

Seit 25 Jahren arbeitet die 61-Jährige an zwei Tagen pro Woche mit Patienten in der Psychiatrie, Hunderte kunsttherapeutischer Kurse hat sie bereits gegeben. Zu den Teilnehmern gehören Menschen, die an paranoider Schizophrenie leiden ebenso wie Manisch-Depressive und schwer Traumatisierte oder an Altersdemenz erkrankte Personen.

Die Kurse sind nicht nur wichtig, um mitunter unterdrückte, kaum bewusste Aspekte und Ursachen der Krankheit aus dem Unterbewusstsein zutage zu fördern, sondern auch um den Patienten eine feste Tagesstruktur und eine sinnvolle Beschäftigung zu verschaffen. "Sie sollen lernen, sich wieder richtig auf eine Tätigkeit konzentrieren zu können", erläutert die Therapeutin.

Reinhild Gerum nennt ihn einfach nur "Simeon". Seinen wirklichen Namen darf aus Datenschutzgründen keiner der rund 150 Zuhörer, darunter Ärzte, Pfleger, Angehörige und andere Künstler, wissen, die sich hier im kbo Isar-Amper-Klinikum München-Ost (so der offizielle Name der Haarer Psychiatrie) versammelt haben. Durch die großen Fenster fällt dämmriges Herbstlicht in den Raum, gibt ihm etwas Melancholisches.

Nur so viel wird bekannt über den aus einer Bergbauernfamilie stammenden Mann: 70 Jahre alt, schon lange lebt er in der Forensik. Massive Gewalt hat er durchleiden müssen und dann irgendwann selbst auch schlimme Verbrechen begangen. Dass er je wieder in Freiheit leben wird, ist eher unwahrscheinlich. Wüsste man nicht, dass Simeon ein Autodidakt ohne jede formale Ausbildung ist, zum Malen gekommen allein aus einem medizinisch-therapeutischen Ansatz - man würde es kaum glauben angesichts des unbestrittenen handwerklichen Talents und der kreativen Idee seines nun präsentierten Gemäldes.

Den Mittelpunkt bildet das Motiv des Struwwelpeters aus den rund 150 Jahre alten Kindergeschichten Heinrich Hoffmanns - selbst Psychiater, Autor, aber eben auch ein Vorreiter der sogenannten "schwarzen Pädagogik". Darum herum positioniert sind Berge, Blumen, Bäume, Seen und Teile einer mittelalterlichen Stadtlandschaft. "Simeon arbeitet frei strukturiert", erläutert Reinhild Gerum, "er bevorzugt Tusche. Und er lebt in der Forensik in seiner eigenen kleinen Welt, seiner Atelier-Ecke. Er scheut die Veränderung." Immerhin: Simeon findet Käufer für seine Bilder und das sind nicht nur karitativ engagierte Menschen, nein, der Patient trifft offenbar den ästhetischen Geschmack eines größeren Personenkreises - "und er schreibt seinen Käufern", verrät Reinhild Gerum, "wenn er gelobt wird, dann freut ihn das."

Doch wie kam sie selbst zu dieser körperlich wie geistig stark beanspruchenden Tätigkeit? Es ist wohl die Faszination am "Wechsel zwischen Heil und Leid" gewesen, so die Münchner Malerin. Sie selbst sei behütet und gesund aufgewachsen, "aber ich wollte immer wissen, was es mit Menschen macht, wenn irgendetwas die Normen um uns rum außer Kraft setzt, wie das Leben dann weitergeht".

Schon als Jugendliche habe sie Zeitungsartikel mit gruseligem Inhalt - "Mann ersticht Frau", "Kind ertrunken" - ausgeschnitten und verarbeitet, verrät Reinhild Gerum. "Was macht das mit einem Menschen, wenn plötzlich alles zerfällt" Und fügt nach einer Weile und mit gesenktem Blick hinzu: "Es kann ja doch jeden treffen. Jeden!"