Ingolstadt
Geschichten von Menschen aus der Region

09.06.2010 | Stand 03.12.2020, 3:57 Uhr

Spiel aus Licht und Schatten: Ein verwilderter Garten in der August-Prechter-Straße in Geisenfeld inspirierte Roland Scheerer zu seiner Fotostrecke "Zaubergarten". - Foto: Scheerer

Ingolstadt (DK) Sie schlummern in den Fotoalben von Familien, in Gesprächen mit den Mitmenschen, in den verborgenen Winkeln des Heimatortes, in alten Briefen, Bauwerken und Vereinen oder haben sich als persönliche Erlebnisse tief in unserer Gedächtnis eingegraben: Geschichten und Anekdoten, die nur darauf warten, erzählt zu werden. Das Kulturfestival "Fliesstext10" will diese Geschichten aufspüren, ihnen Raum geben – und damit den Blick auf die Region, auf unsere Heimat, lenken.



Das geschieht über die Internetplattform www.fliesstext10.de. Mit einem Mausklick auf die bunten Pünktchen einer Landkarte, die die Region 10 abbildet, kann man die bereits eingereichten Geschichten lesen, anschauen und anhören. Gleichzeitig rufen die Veranstalter alle Bewohner der Landkreise Pfaffenhofen, Neuburg-Schrobenhausen, Eichstätt und der Stadt Ingolstadt dazu auf, ihre eigenen kreativen Beiträge auf die Seite hochzuladen. Dabei kann es sich um Texte handeln, aber auch um Fotos, Videos oder Tonaufnahmen.

Der Gestaltung und Inhalte sind keine Grenzen gesetzt. Schließlich soll die Landkarte bis zum Teilnahmeschluss am 10. August noch viel gesprenkelter aussehen als jetzt. "Das Bild kann am Ende gar nicht bunt genug sein", sagt Steffen Kopetzky, der künstlerische Leiter des Festivals, der zudem auch Kulturreferent der Stadt Pfaffenhofen ist. Teilnehmen kann jeder. Aufgerufen sind auch Kindergärten und Schulen: Mit "Kids" wurde eigens eine Kategorie für junge Geschichtenerzähler eingerichtet. Mehr als 40 Beiträge aus den verschiedensten Ecken der Region stehen bereits online.

Einer davon stammt von dem Heimatdichter und Maler Hermann Singer, Jahrgang 1933. In seinem Text "Rekonstruktion eines Lebens" lässt er die Biografie seines Vaters Revue passieren. Er kann sich zwar nur an wenige gemeinsame Erlebnisse mit seinem Vater, der seine Familie verlassen und in den Krieg ziehen musste, erinnern. Ergänzt durch Dokumente und Fotos aber, die der Pfaffenhofener in einem Album aufbewahrt hat, gelingt ihm eine bewegende Reise in die Vergangenheit.

"Das sind Geschichten, die in Vergessenheit geraten, wenn man sie nicht festhält und an die junge Generation weitergibt", begründet Singer sein Schreiben. Aus dem gleichen Grund beteiligte er sich auch am "Fliesstext"-Projekt. Bisher kannten nur Verwandte und Freunde die "Rekonstruktion eines Lebens", jetzt sollen auch andere daran teilhaben können.

Von Roland Scheerer aus Wolnzach hingegen stammen mehrere Klangkunst-Beiträge und Fotostrecken. "Ich habe selten ein so durchdachtes Konzept erlebt, bei dem die Heimat so im Fokus steht", begründet der 36-Jährige seine Begeisterung für "Fliesstext10". Sein Thema sei die "Natur-Mysterie", wie er sagt. Entstanden sind seine Beiträge auf Fahrradwanderungen entlang der Ilm, zu denen er mit Kamera und Notizbuch aufbrach. Aber auch Orte aus seiner Kindheit, die ihn faszinierten, wie etwa einem "Zaubergarten" in Geisenfeld, wo er aufgewachsen ist, hielt der Gymnasiallehrer unter dem Namen "Elegie an August Prechter" in Bildern fest.

Im von Pauline Füg eingereichten Filmbeitrag "Nacht in Eichstätt" beschreiben die 27-jährige Slam Poetin und zwei weitere junge Dichter an verschiedenen Orten in Eichstätt die Hassliebe zu ihrer Heimatstadt: "Dort wohnen wo andere Urlaub machen ist seltsam ich weiß es ist krank aber ich liebe diese Stadt engt mich ein ich will da weg ich komm’ da nicht mehr raus."
 
Allgemein lässt sich Füg für ihre Texte – von denen noch mehrere als eine Art Hörspiel bei "Fliesstext10" zu finden sind – von den unterschiedlichsten Erlebnissen inspirieren. "Was ich sehe, lese, denke und dann weiterspinne", sagt sie. Auch ihre Passage im Film über Eichstätt geht auf eine konkrete Situation zurück: Als sie eines Abends ins Kino gehen wollte, der Film aber nicht gespielt wurde, weil sie die einzige Zuschauerin gewesen wäre. Daraufhin setzte sie sich in eine Kneipe und schrieb ihre Gefühle, die sie ihrer Heimatstadt gegenüber empfindet, nieder.
 
Jede Menge Fantasie steckten die Schüler der Grundschule Ingolstadt-Zuchering in ihre Werke, die ihre Lehrerin Annemarie Pfeifer auf die Internetseite gestellt hat. In ihren Erzählungen haben sich die Kinder etwa darüber Gedanken gemacht, wie ausgerechnet ein Panther zum Ingolstädter Wappentier wurde. "Die Schüler hatten dabei so viele Einfälle, einfach aus dem Bauch heraus. Die Ideen sprudelten nur so", schwärmt Pfeifer. Hintergrund war das Thema Stadtgeschichte, das auf dem Lehrplan der dritten und vierten Klassen steht – und von Pfeifer offenbar alles andere als dröge vermittelt wird. In einem weiteren Beitrag versetzen sich die Grundschüler in das Leben von historischen Personen. Zum Beispiel in Isabeau de Baviere, Prinzessin von Bayern, die später Königin von Frankreich wurde. Oder sie beschreiben den Tag einer Pestkranken. "Gerade in der heutigen Zeit, in der alles immer so schnell gehen muss, ist es doch schön, wenn Menschen etwas reflektieren und zum Stift greifen, um eine Geschichte aufzuschreiben", meint Pfeifer. Das Projekt "Fliesstext10" sei eine wunderbare Gelegenheit dazu.