Augsburg
"Wie ein Programm der Jungsozialisten"

Die Bayerische Verfassung weist überraschende Besonderheiten auf In diesem Jahr wird sie 70 Jahre alt

29.06.2016 | Stand 02.12.2020, 19:36 Uhr

Die Bayerische Verfassung ist auch nach 70 Jahren noch sehr ursprünglich und weist einige Unterschiede zum Grundgesetz auf. - Foto: Oppenheimer

Augsburg (DK) Vor 70 Jahren - am 30. Juni 1946 - haben die Bayern eine Verfassungsgebende Versammlung gewählt. Die von ihr ausgearbeitete Verfassung hat einige Überraschungen parat. Der Augsburger Jura-Professor Josef Franz Lindner ist einer der führenden bayerischen Verfassungsrechtler. Er erklärt die Besonderheiten des Verfassungstextes, der aus seiner Sicht auch von den Jusos stammen könnte.

 

Herr Lindner, fast jeder kennt den ersten Satz des Grundgesetzes "Die Würde des Menschen ist unantastbar". Den ersten Satz der Bayerischen Verfassung kennt fast niemand. Warum?

Josef Franz Lindner: Die Bayerische Verfassung ist im Bewusstsein der Menschen nicht so präsent. Auf das Grundgesetz wird öfter Bezug genommen und es bindet auch die bayerischen Staatsorgane. In der verfassungsrechtlichen und politischen Rezeption hat es daher ein größeres Gewicht. In der Bayerischen Verfassung ist die Menschenwürde in Artikel 100 festgeschrieben. Man zitiert natürlich eher Artikel 1 des Grundgesetzes als Artikel 100 der Bayerischen Verfassung.

 

Der erste Artikel der Bayerischen Verfassung lautet "Bayern ist ein Freistaat". Was unterscheidet Bayern als "Freistaat" von den anderen Ländern?

Lindner: Freistaat ist eine deutsche Übersetzung für den Begriff Republik. Republik bedeutet, dass die Regierenden unabhängig von einer monarchischen Erbfolge sind und gewählt werden.

 

Einer der wesentlichen Grundsätze durch das später verabschiedete Grundgesetz lautet "Bundesrecht bricht Landesrecht". Ist die Bayerische Verfassung durch das Grundgesetz - mit Ausnahme des Teils über den Staatsaufbau - im Prinzip überflüssig geworden?

Lindner: Keineswegs, das Grundgesetz umfasst nur die Bundesrepublik Deutschland und nicht die einzelnen Länder. Die sind laut Grundgesetz aber nicht nur Verwaltungseinheiten, sondern eigene Staaten. Daher brauchen sie eigene Verfassungen, um die Staatsorgane und deren Aufgaben, das Wahlrecht und viele andere Bereiche festzulegen.

 

Setzt die Bayerische Verfassung andere Schwerpunkte als das Grundgesetz?

Lindner: Die Bayerische Verfassung ist ganz anders gestrickt. Das fängt schon beim Aufbau an. In Bayern steht im ersten Hauptteil der Aufbau des Staates und erst der zweite Hauptteil ist den Grundrechten gewidmet. Im Grundgesetz ist es umgekehrt. Aber auch inhaltliche Schwerpunkte sind anders. Die Bayerische Verfassung enthält viel mehr soziale und wirtschaftspolitische Programmsätze, die aber keine große Wirkung entfalten, weil die Gesetzgebungskompetenz beim Bund liegt. Das Grundgesetz ist in diesen Bereichen sehr viel spartanischer.

 

Was heute in Bayern kaum noch vorstellbar ist - der Vater der Verfassung war ein Sozialdemokrat: Wilhelm Hoegner. Wie sozialdemokratisch ist die Verfassung?

Lindner: Mein Doktorvater hat immer gesagt: "Wenn man die Bayerische Verfassung liest, meint man, das ist ein Parteiprogramm der Jungsozialisten." Das ist insoweit berechtigt, weil einige Klauseln zu finden sind, wie die, dass Bodenwertsteigerungen ohne Arbeitseinsatz vergemeinschaftet werden sollen. In Artikel 123 Absatz 3 heißt es: "Die Erbschaftsteuer dient auch dem Zwecke, die Ansammlung von Riesenvermögen in den Händen einzelner zu verhindern." Das ist vor dem Hintergrund der aktuellen Erbschaftsteuerdiskussion natürlich eine knackige Aussage, hat aber keine Bedeutung, weil das Erbschaftsteuerrecht Bundesangelegenheit ist.

 

Im Grundgesetz wurden viele Lehren aus der Weimarer Republik gezogen. Ist das in der Bayerischen Verfassung auch so?

Lindner: So unmittelbar nicht. Aber es wurde versucht, eine starke und stabile Staatsregierung zu schaffen. Eine Schwäche Weimars war die Schwäche der Exekutive. In Bayern gibt es weder ein destruktives noch ein konstruktives Misstrauensvotum. Das hat zu einer beachtlichen Stabilität des Staatswesens beigetragen.

 

Die Bayerische Verfassung weist noch einige andere Besonderheiten auf, beispielsweise die starken plebiszitären Elemente. Wie kam es dazu?

Lindner: Hoegner und Hans Nawiasky, die beiden Väter der Verfassung, waren beide in der Schweiz im Exil. Dort ist der erste Entwurf der Bayerischen Verfassung konzipiert worden, der dann Grundlage der Verfassungsberatungen war. Von dort kamen natürlich viele Impulse für die direkte Demokratie.

 

Eine weitere bayerische Besonderheit ist Artikel 141,3, der freien Zugang zu Natur und Seen garantiert. Das hat in der Vergangenheit immer wieder für Streit gesorgt. Darf man Pilze sammeln und baden gehen, wo man will?

Lindner: Das ist stark einzelfallabhängig. Alle frei zugänglichen Bereiche, die der Erholung dienen können - Seen, Berge, Wiesen, Wälder -, können grundsätzlich ohne Einverständnis des Eigentümers betreten werden. Dort kann man in angemessenem Umfang auch Pilze oder Beeren sammeln. Es ist aber nicht so, dass man unter Berufung auf die Verfassung überall alles machen dürfte - es muss der Erholung dienen. Der Eigentümer hat außerdem die Möglichkeit, bestimmte Gebiete aus Naturschutzgründen zu sperren.

 

Für Irritationen hat in der Vergangenheit Artikel 111a gesorgt. Demnach gibt es privaten Rundfunk in Bayern nur in öffentlich-rechtlicher Trägerschaft. Ist der Rundfunk hierzulande weniger frei als in anderen Bundesländern?

Lindner: Nein, Artikel 111a führt im Ergebnis zur gleichen Rechtslage wie in anderen Ländern. Es ist nur eine andere Konstruktion, die besagt, dass der Rundfunk insgesamt zwar öffentlich-rechtlich gestaltet sein muss. Das schließt den privaten Rundfunk aber nicht aus.

 

Die Bayerische Verfassung wurde in den vergangenen 70 Jahren vergleichsweise selten geändert. Unter den wenigen Reformen waren aber auch einschneidende, wie die Abschaffung der zweiten Kammer, des Senats, 1999. Wie ursprünglich ist die Bayerische Verfassung noch?

Lindner: Die Verfassung wurde so wenig geändert, weil die Hürden sehr hoch sind. Es ist immer ein Volksentscheid nötig. Durch den Wegfall des Senats hat die Verfassung eine markante Besonderheit verloren. Das war aus meiner Sicht ein verfassungsrechtlicher Sündenfall. Aus Einsparungsgründen wurde ein Staatsorgan geopfert, das eine hohe Plausibilität hatte. Denn im Senat wirkten ja alle gesellschaftlich relevanten Gruppen an der Gesetzgebung mit. Insgesamt ist die Bayerische Verfassung durchaus noch ursprünglich, hat aber einige Substanzen eingebüßt.

 

Das Interview führte Daniel Wenisch. Foto: Universität Augsburg