Die Entdeckung der Langsamkeit

26.09.2017 | Stand 02.12.2020, 17:26 Uhr

Seit 1979 läuft das Mercedes G-Modell vom Band. Geändert hat sich seitdem wenig. Kaum ein Auto wirkt so robust, ist so geländetauglich. Eigentlich kann dieses Fahrzeug alles - außer rasen. Eine tolle Erfahrung in unserer schnelllebigen Zeit.

Mehr Burg als Auto - so lässt sich das G-Modell von Mercedes wohl am besten in Kurzform charakterisieren. Ein Geländewagen mit einem Leergewicht von mehr als 2,6 Tonnen und einem gigantischen Wendekreis von 13,6 Metern, der sich Bezeichnungen wie SUV oder Lifestyle strengstens verbittet. Während heutige Fahrzeuge im Windkanal rundgelutscht werden, stößt das Auge beim G-Modell aus nahezu jedem Blickwinkel auf Ecken und Kanten. Das Ergebnis ist - abgesehen von einer irgendwie lässigen (weil aus der Zeit gefallenen) Optik - die Aerodynamik einer Schrankwand (cw-Wert: 0,54). Fest steht: Als Lenker dieses Godzillas mit Stern auf dem Grill ist man felsenfest davon überzeugt, dass einen hiermit nichts und niemand aufhalten kann - außer vielleicht ein leerer Tank.

Seit dem Jahr 1979 läuft das G-Modell (G für Geländewagen) nun bei Magna Steyr in Graz vom Band. Die Grundform wurde seitdem kaum verändert, technisch gab es immer wieder Verbesserungen. Trotzdem: Von dem Luxus, für den die Marke Mercedes-Benz mittlerweile in allen Klassen steht, ist im G-Modell kaum etwas zu spüren - besonders nicht in der von uns getesteten puristischen Professional-Version. Parkpiepser? Gibt es nicht. Beim Rangieren ist Augenmaß gefragt. Dank der gewaltigen Masse und der massiven Bauweise (inklusive einer umlaufenden schwarzen Plastik-Schutzleiste) sorgt man sich mehr um Schäden an der Umwelt als am eigenen Fahrzeug.

Grundsätzlich lässt sich der G aufgrund seiner Kastenform ziemlich gut abschätzen. Die großen Fensterflächen bieten eine wunderbare Rundumsicht - was vor allem mitfahrende Kinder freut. Eine Ausnahme bietet der Blick über die Schulter hinaus zur Heckscheibe: Hier ist nicht nur eine breite Blechsäule im Weg, sondern vor allem das Reserverad. Das eingehängte Gepäcknetz schränkt die Sicht weiter ein.

Sieht man einmal vom inzwischen nicht mehr produzierten Land Rover Defender ab, gibt es wohl kaum noch ein Fahrzeug, das so alltagstauglich und gleichzeitig so geländegängig und robust ist. Der G erklimmt bis zu 45 Grad steile Hänge, durchfährt schadlos 60 Zentimeter tiefe Wasserläufe und kann obendrein noch 3,2 Tonnen Anhängelast ziehen. Wer die außen angeschlagenen Türen ins Schloss werfen will, braucht schon ein wenig Schmackes - das korrekte Schließen gelingt meist nicht im ersten Anlauf. Jedesmal erneut für eine Schrecksekunde sorgt die Türverriegelung: Wenn sich das Türschloss schließt, klingt das so ähnlich, als wenn eine Gewehrkugel im Blech einschlägt.

Rustikal geht es auch im Innenraum zu: Teppich? Fehlanzeige. Die Gummi-Fußmatten (Aufpreis: 208,25 Euro) liegen auf dem lackierten Blech - teilweise ist ein sandpapierartiger Antirutschbelag aufgeklebt. Auch elektrische Fensterheber sucht der Insasse vergebens: Im G-Modell wird gekurbelt. Skurril: Die Lenksäule und die Stoffpolstersitze vorne lassen sich dagegen zumindest teilweise elektrisch verstellen.

Wanderer und Hundebesitzer aufgepasst: Der Fußboden im G-Modell lässt sich tatsächlich mit einem Hochdruckreiniger abspritzen: unter den Fußmatten befinden sich Stöpsel, durch die das Wasser abfließen kann. Die Türen sind nur hauchdünn verkleidet. Und weil dazu auch noch das Dach so hoch ist, ergibt sich ein gigantisches Raumgefühl.

Dass man sich nicht ganz in die 80er-Jahre zurückversetzt fühlt, liegt hauptsächlich am Lenkrad: Das entspricht mit seinen Multifunktionstasten (fast) dem aktuellen Stand der Technik. Der Luxus im G-Modell besteht aus einer erstklassig funktionierenden Sitzheizung und einer Klimaanlage. Letztere sollte man vor der Fahrt einstellen, denn die Bedieneinheit sitzt gefährlich tief. Wünschenswert wären ein paar zusätzliche Ablagen - und ein Cupholder, um auf dem Weg zur Baustelle ein Becherchen Kaffee genießen zu können.

Infotainment ist im G 350 d Professional ein Fremdwort. Einen Navi-Bildschirm gibt es nicht, dafür ein Bluetooth-Radio, das optisch an die 90er-Jahre erinnert. Der Sound ist ziemlich dünn und wird heute von so ziemlich jeder Standard-Kleinwagen-Anlage übertroffen. Zwar ist in dem Gerät auch ein Navi integriert, aber weil der Bildschirm so winzig ist, greifen wir lieber auf das Smartphone als Wegweiser zurück. Telefonieren mit Freisprechen ist bei schnellerer Fahrt wegen der Geräuschkulisse nur schwer möglich.

Apropos schwer: Die robuste Bauweise (Leiterrahmen-Karosserie) und der Allradantrieb mit Geländeuntersetzung und drei zuschaltbaren Differentialsperren bescheren dem G-Modell nicht nur ein hohes Gewicht, sondern auch einen zünftigen Verbrauch. Laut Herstellerangaben sind es 9,9 Liter Diesel auf 100 Kilometer. Realistischer sind nach unserer Erfahrung 11 bis 12 Liter. Wer schwer beladen steile Hänge erklimmt oder auf der Autobahn aufs Gas tritt, kann dementsprechend mit deutlich mehr rechnen.

Die miserable Aerodynamik macht sich nicht nur im Verbrauch bemerkbar. Der Dachgepäckträger, die steile Windschutzscheibe und die riesigen Rückspiegel sorgen ab 90 km/h aufwärts für kräftige Windgeräusche. Die theoretisch maximal möglichen 160 km/h will man also eigentlich gar nicht erreichen. Und das ist weniger schlimm, als man meinen mag: Wer mit höchstens 100 Sachen mehrere Hundert Kilometer auf der Autobahn fährt, kommt natürlich dementsprechend später an - aber auch herrlich entspannt. Höhepunkt sind die Parkplatz-Pausen: Die Brotzeit kann man auf dem Stahl-Dachgepäckträger genießen, der sich über die Heckleiter erklimmen lässt. Nachteil der Dachkonstruktion: Regnet es, ergießen sich bei stärkeren Bremsmanövern Sturzbäche über die Frontscheibe.

Wer jetzt meint, ein so spartanisch ausgestattetes Auto dürfte doch eigentlich nicht so teuer sein, irrt leider. Der Basispreis für den G 350 d Professional liegt bei 79 968 Euro. Unser Testwagen kostete rund 100 000 Euro. Allerdings ist es eine Überlegung wert, ob man dieses Auto tatsächlich in der Sonderlackierung Chinablau erwerben muss - für einen ambitionierten Aufpreis von 6783 Euro. Auch die aufgerufenen 2380 Euro für das fummelige Navi-Radio sind ganz schön happig. Das Geld ist bei einem guten Smartphone besser angelegt. Und dann bleibt sogar noch genug übrig, um dem Beifahrer eine Gitarre zu kaufen. ‹ŒDK