Steinerskirchen
"Mir war klar, wir kommen hier nicht raus"

Zeitzeuge Shlomo Wolkowicz erzählte in der Oase Steinerskirchen vom Holocaust

21.11.2013 | Stand 02.12.2020, 23:24 Uhr

„Fast der ganze Hof war voller Leichen“, erklärte Shlomo Wolkowicz. Zur Veranschaulichung hatte er ein Modell des Gefängnishofes in Zloczow mitgebracht, in das er zusammen mit vielen anderen Juden gebracht wurde - Foto: De Pascale

Steinerskirchen (SZ) „Wenn jemand von euch mich fragt, warum? Ich hatte damals keine Antwort drauf, ich habe auch heute keine“ – Jahrzehnte sind vergangen, seit Shlomo Wolkowicz als jüdischer Junge den Holocaust in Polen miterlebte. Am Mittwoch erzählte er in der Oase Steinerskirchen davon.

Kurz bevor der Vortrag beginnt, ist kaum ein Hineinkommen in den Tagungsraum 2 der Oase. Zusätzliche Stühle werden herbeigeschafft. Mit so vielen Besuchern hatte offenbar niemand gerechnet. Über 120 Menschen sind es, die an diesem verregneten, kalten Novemberabend gekommen sind, um den Worten dieses alten Mannes zu lauschen. „Ich glaube, wir spüren alle, das ist eine Möglichkeit, die wir nicht mehr sehr lange haben werden – Augenzeugen zu hören, die von dieser Zeit erzählen“, sagte Anton Ringseisen, Superior von den Herz-Jesu-Missionaren.

Mit den Worten „Mein Name ist Shlomo, ich komme zu euch aus Haifa“, begrüßt Wolkowicz die Gäste. Er spricht Deutsch mit polnischem Akzent. Auch ohne Mikrofon ist der 90-Jährige erstaunlich gut zu verstehen. Erst als er später ein Holzmodell in die Hand nehmen wird, ist ihm sein hohes Alter ein wenig anzumerken.

Shlomo Wolkowicz erzählt, wie er als Schüler aus der Stadt Lemberg floh, nachdem die Wehrmacht die Sowjetunion angegriffen hatte. Dass sich Deutschland und die Sowjetunion längst im Geheimen darauf geeinigt hatten, Polen aufzuteilen, davon habe er erst viele Jahre später erfahren, sagt er.

Nachdem er zwischen Einheiten der Roten Armee geraten und Luftangriffe miterleben musste, erreichte Shlomo Wolkowicz schließlich das Haus seines Onkels in Zloczow, wo er auch das Mädchen Dora kennenlernte. Drei Tage später wurde die Stadt von der Wehrmacht eingenommen, es folgten die SS-Einheiten. „Hunderte Ukrainer haben sich bei denen freiwillig gemeldet und Hilfe angeboten gegen die Juden“, erzählt Wolkowicz. Es ist beeindruckend, Shlomo Wolkowicz erzählt das alles voller Emotionen – und dennoch ist kein Hass zu spüren. Nicht Verbitterung ist in seinem Gesicht zu lesen, allenfalls Traurigkeit. Er wirkt gütig, so, als habe er mit sich und seiner Lebensgeschichte Frieden geschlossen.

Schließlich erzählt Shlomo Wolkowicz davon, wie die Bewohner aus dem Haus des Onkels gezerrt und zum Schlossgefängnis getrieben wurden. Um seine Erlebnisse zu veranschaulichen, hat Wolkowicz ein kleines Holzmodell des Gefängnishofes mitgebracht. „Fast der ganze Hof war voller Leichen“, berichtet er und deutet dabei auf die schwarze Fläche auf seinem Modell. Wie alle anderen Juden, musste auch er die Leichen wegschaffen. „Wer sind die“, wollte er wissen. Politische Gefangene, die der russische Geheimdienst vor dem Abzug ermordet habe, wurde ihm geantwortet.

Bis zum Abend trug Shlomo Wolkowicz Leichen. Immer wieder wurde vor seinen Augen ein Jude von den SS-Soldaten brutal totgeschlagen. „Mir war klar, wir kommen hier nicht raus“, erzählt Wolkowicz. Irgendwann kamen SS-Leute mit Maschinengewehren. „Auf uns gerichtet. Alles klar. Kein Zweifel mehr“, sagt er. Dann: Feuer! „Maschinengewehre fingen an, auf uns zu schießen. Es brach ein Schreien aus. Ich habe den Kopf nach unten gedrückt. Ich weiß gar nicht, warum. Vielleicht hatte ich Angst, zu sehen, was um mich passiert“, erzählt Wolkowicz.

Seinen anfänglichen Plan, zusammen mit der Tante und Dora – Frauen wurden freigelassen – zu fliehen, verwirft er. Wie sooft, trifft Shlomo Wolkowicz im richtigen Moment die richtige Entscheidung. „Ich verfolgte den Ausgang der Frauen. Mir war klar, mir wäre auf keinen Fall gelungen, zwischen denen raus zu kommen“.

Dann wieder der Befehl: Feuer! „Von hinten fielen Leichen auf mich. Immer wieder verlor ich das Bewusstsein“. Shlomo lag in einem Grab aus Hunderten von Leichen. Mit seiner freien rechten Hand hatte er begonnen, eine Öffnung zwischen die Leichen zu bohren. Strömender Regen setzte ein. Und mit dem Regen die Dunkelheit. Er beschloss, sich noch ein paar Stunden ruhig zu verhalten und sich dann zu befreien. Das erste, was er danach sah: Vollmond. „Und ich dachte: Vielleicht hat ihn jemand speziell da hängen gelassen, um dieses schreckliche Bild zu beleuchten.“ 3000 Menschen wurden an jenem Tag in Zloczow getötet – Shlomo Wolkowicz gelang die Flucht. Sein Leidensweg aber war damit noch nicht zu Ende.

„Ich bin Jude“, sagt Shlomo Wolkowicz während seines Vortrages in Steinerskirchen oft. Und immer, wenn er das sagt, unterstreicht er seine Worte, in dem er auf seine Brust deutet. Was auch immer diesem Mann angetan wurde – seine Seele, seinen Stolz, seine Aufrichtigkeit, konnte ihm ganz offensichtlich niemand rauben.