Schrobenhausen
Die Flucht noch einmal im Traum erlebt

Karl-Heinz Torge berichtete Oberstufenschülern des Gymnasiums von seinem Leben in der ehemaligen DDR

01.10.2015 | Stand 02.12.2020, 20:44 Uhr

Schrobenhausen (SZ) Was es bedeutet, seine Heimat zu verlassen, dieses Thema ist dieser Tage so aktuell wie lange nicht mehr. Einer der weiß, wie sich das anfühlt, ist Karl-Heinz Torge. Anlässlich des 25-jährigen Jubiläums der Deutschen Einheit erzählte er Gymnasiasten von seiner Flucht aus der DDR.

Er hat sein Leben aufs Spiel gesetzt, um ein besseres Leben zu haben. Karl-Heinz Torge, einer der bedeutendsten Bildhauer der Region, wagte 1966 den Sprung über die Demarkationslinie, als Pionier, der gerade ein Stück Mauer am Rande des britischen Sektors reparierte. Über 200 Menschen schafften es nicht, kamen bei Fluchtversuchen aus der DDR ums Leben. Schülern des Gymnasiums erzählte er jetzt, wie sich Flucht anfühlt. Und Flüchtling sein, darauf wies Mathias Petry von der Schrobenhausener Zeitung, der die Veranstaltung moderierte, hin, das sei ja heute, wo Deutschland 25 Jahre Einheit feiert, wieder ein Thema.

Torge erzählte, danach gefragt, warum er damals geflohen war. „Die persönliche Unfreiheit, dass einem alles aufgedrückt wurde, die Politpropaganda voller Lügen“, antwortet Torge. Selbst die freie Berufswahl sei unterdrückt worden. Was ihn von den Menschen, die heute auf der Flucht sind, unterscheide? „Diejenigen, die jetzt fliehen, haben es bedeutend schwerer“, ist Torge überzeugt. Vor allem auch der Sprache wegen. Seine eigene Flucht habe er Monate danach noch einmal im Traum erlebt, die Momente der Flucht selbst seien abgelaufen wie im Film.

„Man kommt mit nichts – wie fühlt sich das an“, will Petry wissen. Torge erzählt von seinen ersten Eindrücken im Westen, als er von Engländern abgeholt und in ein Gebäude gebracht wurde, wo er auf Kleiderstangen hochrangige DDR-Uniformen entdeckte. „Wie viele flüchteten – das wurde alles vertuscht“, sagt er. Von der Bundesrepublik habe er dann 150 D-Mark bekommen, von der Caritas eine erste Grundversorgung. Ob er wusste, was ihn im Westen erwarte? „Ich war blauäugig“, gibt Torge zu.

Auch ein bewegendes Zeugnis jener Zeit hat Torge mitgebracht: Die Postkarte, mit der er sich seinen Verwandten, die nichts von seinen Fluchtplänen wussten, erklärte. „Sicher macht Ihr Euch Sorgen um mich. Mir geht es ausgezeichnet“, steht darauf geschrieben. Zusammen mit weiteren Dokumenten tauchte die Postkarte später übrigens in einer der Akten der Gauck-Behörde auf.

Doch Karl-Heinz Torge berichtet den Gymnasiasten auch von der Zeit davor, vom Leben in der damaligen DDR. Von Momenten, wie jenen nach den Sommerferien, als im Klassenzimmer wieder mal einige Plätze frei blieben, weil die Mitschüler geflohen waren. Er erzählt von Drill und Druck, auch während seines Studiums an der Hochschule für Bildende Künste in Dresden. Und wie schwer es war, anderen zu vertrauen. Doch Torge kennt auch die andere Perspektive. Als er selbst damals auf der anderen Seite der Mauer stand, als Grenzsoldat der NVA, in Berlin stationiert. Trotz allem hat Torge nicht nur negative Erinnerungen an sein Leben in der DDR. „Mit dem entsprechenden Geld in der Lohntüte konnte man genauso gut leben wie in der Bundesrepublik.“ An Luxusartikel ranzukommen, sei allerdings schwer gewesen. Wobei Torge einräumt: „Unangenehmes verdrängt man“. Mit dem Feiern hab er es nicht so, gesteht Torge. Wenn sich jedoch der Tag seiner Flucht jährt, und er zufällig drandenke, „dann stoße ich mit meiner Frau mit einem Glas Wein an“.

Dass die Schüler zwei Schulstunden lang aufmerksam den Schilderungen Torges lauschen, freut vor allem Schulleiter Edmund Speiseder: „Das ist ein Musterbeispiel an Würdigung unseres Gastes“, lobt er. Und zur abschließenden Hymne der Bundesrepublik – zuvor hatten Schüler des Additums auch die DDR-Hymne gespielt – gelingt es ihm sogar, seine Oberstufenschüler dazu zu bewegen, sich zu erheben.