Schrobenhausen
Der Grafiker und die Pianistin

Neue Briefe aufgetaucht: Joseph Sattler und Erna Koenig Eine Episode aus Sattlers Straßburger Zeit

19.01.2018 | Stand 02.12.2020, 16:56 Uhr

Foto: Franz-Josef Mayer

Schrobenhausen (mbs) Nach wie vor gibt es kein Gesamtbild von Joseph Kaspar Sattler. Nun aber ist der Schrobenhausener Sammlung ein Mosaikstein zur Biografie zugeflogen, ein kleiner Stapel äußerst reizvoller Dokumente, die eine Episode aus der Straßburger Zeit belegen, den Kontakt zu einer Pianistin.

Historiker und Archivare träumen von solchen Geschichten: Bei Kulturamtsleiterin Claudia Freitag-Mair läutet das Telefon und eine ältere Dame in München - Rosemarie Scheid aus Obermenzing - erzählt, sie hätte eine kleine Sammlung Briefkarten, die Joseph Sattler in den Jahren 1917 und 1918 in Straßburg an eine junge Frau, an die Musikstudentin Erna Koenig, gerichtet hat. Sie glaube, dass ihre Erben mit Sattler-Äußerungen nichts anfangen könnten und gebe die Schätze gerne als Schenkung an die Sattler-Stadt Schrobenhausen. Claudia Freitag-Mair machte sich sofort an die Archivierung, Bürgermeister Karlheinz Stephan bedankte sich mit einem freundlichen Brief im Namen der Stadt.

Zu Rosemarie Scheid, die ihr Leben im gehobenen Schuldienst an der Regierung von Oberfranken und in München verbracht hat, kamen die Sattler-Dokumente durch familiäre Zusammenhänge. Ihre Eltern und die Familie von Sattlers Briefempfängerin hatten über Jahrzehnte engen Kontakt. In dieser Beziehung, so Rosemarie Scheid, "war sie für mich immer die Tante Erna".

In dem Konvolut kommt eine Geschichte zum Vorschein, die sich wie ein Roman-Kapitel innerhalb der Sattler-Biographie lesen lässt. Im Jahr 1917 wurde Sattler 50 Jahre alt, die junge Erna Koenig war halb so alt, geboren 1892, könnte also eine Tochter sein. Es ist eine Episode für beide, eine Affäre war es sicher nicht. Es hat eher den Anschein, als hätte sich die junge Frau etwas darauf zugutegetan, einen im ganzen Elsass anerkannten Künstler zu ihren engen persönlichen Bekannten zählen zu können. Die Pianistin, die später als Klavierlehrerin tätig war, hatte einen Lehrer mit großem Namen: Hans Pfitzner. Er stellte seiner Schülerin ein hervorragendes Zeugnis aus, das noch erhalten ist und ihr bescheinigt, über eine Reihe von Jahrgängen hin die begabteste Schülerin am Straßburger Konservatorium gewesen zu sein.

Sattlers freundliche Adressen an Erna Koenig setzen im Frühjahr 1917 ein. Am 24. April schreibt er: "Sehr verehrtes Fräulein! Entschuldigen Sie vielmals! Musste eine Arbeit fertig machen. Aber am nächsten Sonntag werde ich bestimmt frei sein. Hoffentlich ist Ihnen mein Besuch dann angenehm . . ." Solcherart Absagen an ein Zusammensein wiederholen sich. Mitte Juli 1917 schreibt Sattler an das sehr geehrte Fräulein: "Vielen Dank für die freundliche Zusendung Ihrer Karte. Leider kann ich nicht kommen. Nächsten Sonntag muss ich arbeiten . . . Vielleicht passt Ihnen einmal ein Werktag zu einem kleinen Ausflug" Eine Woche später behindert ihn "eine wichtige Arbeit ... Es geht immer so, wenn man sich zu früh freut . . ."

Auch in den Schwarzwald-Urlaub schickt Sattler "beste Grüße" und schreibt im August 1917: "Schönsten Dank für die schöne Karte! Es freut mich, dass Sie gut untergebracht sind . . . Ich sitze fast immer auf meiner Stube und arbeite mit Freude. Erholen Sie sich recht gut - und laufen Sie nicht zu viel, Kriegskost will Ruhe!" Im September ist Erna Koenig wieder zurück und Sattler schreibt Mitte des Monats auf einer Karte mit Straßburg-Motiv: "Es ist nur ein Gruß! Bis Montag eilt es wieder. Aber in der nächsten Woche wird wohl ein Nachmittag frei werden . . . Hoffentlich verlieren Sie die Geduld nicht!" Im Herbst folgen wieder Absagen.

Im Januar 1918 reflektiert Sattler auf einen "Erfolg" der jungen Pianistin, es bleibt aber offen, ob es um eine Prüfung geht oder um einen Auftritt. Im März kommt ein Porträt zur Sprache: "Am nächsten Samstag hat sich ein Auftraggeber von auswärts angesagt und will um 5 Uhr kommen. Da wird es wohl zu spät werden fürs Porträt? Könnten Sie vielleicht an einem der nächsten Tage um 5 Uhr herum kommen" Eventuell handelt es sich um das Porträt, das Sattler von Erna Koenig anfertigte und ihr offenbar gerahmt mit Widmung auf der Rückseite übergeben hat. Ein solches Porträt gehört zur Sammlung, die Rosemarie Scheid nach Schrobenhausen gegeben hat.

Ihren besonderen Wert haben die Karten an Erna Koenig durch die vielen Zeichnungen und Symbole, mit denen Sattler seine kleinen Notizen schmückte. Damit kommen seltene Originale in die Schrobenhausener Sammlung. Mehrfach präsentiert sich der Künstler mit Witz und Ironie in Selbstporträts, mal am Arbeitstisch dann wieder mit einer Flasche Wein. In der Kriegszeit bekam er mehrfach Aufträge, auch vom Roten Kreuz, um mit Grafik propagandistisch tätig zu werden. Er konnte Postkarten mit von ihm gezeichneten Motiven verwenden; so wird etwa ein "Beobachtungsstand" dargestellt. Die Gründe seiner Absagen belegen jedenfalls, dass er gut im Geschäft war und viele Aufträge hatte.

Der Verlauf des Krieges kommt in Sattlers Notizen nur am Rande vor. Noch am 7. November 1918 schreibt er: "Leider geht es in dieser Woche nicht! Schade! Ich werde Anfang nächster Woche bei Ihnen anfragen, vielleicht können wir dann einen gemeinsamen Spaziergang machen." Ob es dazu noch kam? In diesen Tagen ging der Krieg zu Ende und in diesem Chaos verliert sich offenbar auch der persönliche Kontakt. Nach dem verlorenen Ersten Weltkrieg gingen viele Deutsche aus dem Elsass in deutsche Regionen, auch die Familien von Erna Koenig und Rosemarie Scheid. Joseph Sattler nahm schweren Herzens Abschied von Straßburg und siedelte um nach München.

Ein letzter längerer Brief von Sattler stammt aus dem Jahr 1923. Er schreibt an Erna Koenig, mittlerweile verheiratete Frau Ritzmann, die ihm offenbar einen jungen Künstler ans Herz legt. Sattler nimmt Stellung: "Was den jungen Mann betrifft, der €šKünstler €˜ werden will, so ist das keine leichte Sache. Selbstverständlich kann der junge Mann, wenn er hierher nach München kommt, mich aufsuchen und seine Arbeiten mir zeigen. Ich kann nichts voraus sagen, . . . muss einige Proben seiner Begabung kennen gelernt haben. Mancher ist gleich ein Kerl - und mancher entwickelt sich langsam. Wenn es aber nur zu einem durchschnittlichen Kunstmaler reicht - dann lieber nicht. Ein ganz starkes Talent ringt sich immer durch - und ein echter Künstler erst recht. Der junge Mann soll nur kommen! Er wird gut aufgenommen. Was ich ihm sagen kann, erfährt er." Sattler endet mit einer persönlichen Bemerkung: "Wie geht es mit unserem Chopin? Spielen Sie ihn noch? Ich hab ihn noch gut im Gedächtnis. Bleiben Sie gesund, alles Gute auch Ihrem Stammhalter."

Von diesem Stammhalter weiß Rosemarie Scheid, dass er als junger Mann im Zweiten Weltkrieg gefallen ist. Erna Ritzmann verbrachte ihr ganzes Leben im Raum nördlich von Berlin, war immer mit dem Klavier verbunden und gab Unterricht. Sie starb 1975 und ist begraben in Neubrandenburg.