Reden mit der Hand und mit dem Computer

26.08.2009 | Stand 03.12.2020, 4:42 Uhr

Da schaut die Mutter über die Schulter: Mit dem Talker schafft Lisa es bestens, sich auch Fremden verständlich zu machen – unerlässlich ist das Gerät für die Schule. - Foto: Hammerl

Karlshuld (ahl) Sie lacht gern. Und weint, wenn sie traurig ist. Lisa hat ihre kleinen Geheimnisse wie alle 13-Jährigen und kann auch ganz schön zickig sein. Anders als in anderen Familien mit pubertierenden Kindern richtet sich das Leben der Familie Ultes weitgehend nach ihr, denn Lisa ist schwer behindert.

Sie kam gesund zur Welt, erlitt jedoch im Alter von nur vier Tagen eine Gehirnblutung, die erst rund ein Jahr später rückblickend festgestellt wurde. Bis dahin gingen Eltern und Ärzte von einem gesunden Baby aus, obwohl Karin und Wolfgang Ultes schon viel früher aufgefallen war, dass Lisa sich nicht so wie die beiden älteren Töchter entwickelte.

Lisa sitzt mit am Tisch, in ihrem Elektro-Rolli festgeschnallt, denn alleine sitzen kann sie nicht. Sie benötigt eine spezielle Sitzschale, weil ihre rechte Körperhälfte gelähmt ist.

"Wofür sind die Fotos", möchte sie wissen. Lisa fragt mit der linken Hand. Für die Zeitung, erfährt sie und gibt ihr Einverständnis. Eine eigene Gestensprache haben Familie und Bekannte mit dem Mädchen zusammen entwickelt, nachdem klar war, dass Lisa nie würde sprechen können. "Die Gesten richteten sich nach Lisas Bedürfnissen", erläutert die Mutter und führt vor, wie Lisa Hunger oder Durst signalisiert. Das war der Anfang der eigenen Sprache. Papas Firmenauto war ein alter Diesel, der stank – folglich fasste sich Lisa an die Nase, und das nächste Zeichen war kreiert. Damit sie sich auch mit Fremden unterhalten kann, lernt Lisa nun eine anerkannte Einhand-Gebärdensprache. Für die Schule – sie besucht in Ingolstadt die Schule für Körperbehinderte – hat sie ihren Talker, mit dem sie sich bestens verständlich machen kann. Das Gerät, das äußerlich einem Spielcomputer ähnelt, setzt alles, was Lisa mit der linken Hand eintippt, in Sprache um. "Ich war noch nicht dran", sagt der Talker auf einen einzelnen Knopfdruck hin. Manche Sätze, die häufiger gebraucht werden, sind voreingestellt, alles andere tippt das Mädchen Buchstabe für Buchstabe ein. Auch Englisch und Mathematik lernt Lisa mit Hilfe des Computers. "Das ist unser großes Glück – geistig ist Lisa fit", sagt Karin Ultes und erzählt stolz von Lisas guten Noten. Nur Einsen und Zweien bringe die 13-Jährige heim, und Lisa strahlt. Alle fünf Finger ihrer Linken streckt sie hoch und dann noch einmal zwei.

"Ja, du kommst jetzt in die siebte Klasse", bestätigt Wolfgang Ultes und über Lisas Gesicht huscht ein Lächeln. Ferien sind für sie eher langweilig. "Am liebsten wäre sie immerzu unterwegs", erzählt Mutter Karin, "aber wir haben schließlich auch zu Hause noch Arbeit". Immer kann es also nicht nach Lisas Willen gehen, und geht es auch in anderen Dingen nicht, da bleibt Karin Ultes konsequent. Erziehung müsse sein, sagt sie, auch bei bockigen Jugendlichen und notfalls auch in der Öffentlichkeit.

Sehr gerne fährt Lisa in den Zoo oder in den Westpark zum Einkaufen. "Hauptsache viele Leute, Musik, Trubel, das liebt sie", lächelt die Mama. Jetzt interessiert Lisa sich für den Karlshulder Herbstlauf. Wie er abläuft und wer mitmacht, fragt sie. Denn der Flyer liegt auf dem Tisch. Wie jedes Jahr soll auch diesmal "Laufende Hilfe" mit der Sportveranstaltung des Karlshulder Sportvereins (SVK) verbunden sein. "Ein Euro pro Starter geben wir an Lisa weiter", sagt SVK-Vorsitzender Hartmut Schier, Spenden kämen gegebenenfalls noch dazu. Über das Geld darf Lisa selbst bestimmen. "Das ist ihres", bekräftigen die Eltern. Lisa wünscht sich eine Dreitagesfahrt in den Freizeitpark Rust. Angst vor wilden Fahrgeschäften hat sie nicht. Je höher, desto besser, erzählen die Eltern. Auch nach Italien ans Meer würde sie sehr gerne einmal fahren – ein Traum, den die Familie bisher nicht verwirklichen konnte.

Ob sie Fernsehen dürfe, fragt sie schüchtern. Lisas Lieblingssendung "Mein Baby" fängt gleich an, und natürlich darf sie. Vater Wolfgang öffnet den Fernsehschrank und schaltet das Gerät für sie ein, während Lisa sich mit dem Rolli in Bewegung setzt. Der Elektro-Rollstuhl gibt ihr Bewegungsfreiheit. Seit einem Umbau des Hauses vor einigen Jahren kann sie ohne Hilfe in den ersten Stock in ihr Zimmer hinauf fahren. Dank Rolli ist sie auch beim Einkaufen ein Stück weit unabhängig von den Eltern, die sich erst einmal daran gewöhnen mussten. "Plötzlich war sie weg", erinnert sich Karin Ultes an die Umstellungsphase. Denn im alten Rollstuhl musste Lisa bleiben, wo sie hingestellt wurde, jetzt spielt sie damit in der Schule Hockey, und erledigt sie schon mal kleinere Einkäufe allein, während sich die Eltern in einem anderen Geschäft umsehen.

Lisa braucht zwar rund um die Uhr Betreuung, muss auch nachts mehrmals umgebettet werden und zu trinken bekommen, aber trotzdem erziehen die Ultes ihre Jüngste zu einer gewissen Selbstständigkeit. "Zu behütet, das wäre nichts, das täte ihr nicht gut und uns auch nicht", findet die Mutter. Auch sie selbst hat sich Freiräume bewahrt. Während Lisa in der Schule ist, geht Karin Ultes einer Teilzeitstelle nach. Sie stärkt Lisa darin, gleichberechtigt zu agieren. Zwar soll das Mädchen Rücksicht auf andere nehmen, wenn sie mit ihrem E-Rolli unterwegs ist, aber sie müsse sich auch nicht gefallen lassen, dass ihr beispielsweise der Weg abgeschnitten wird.

Leicht ist es nicht, weder für Lisa noch für ihre Eltern. "Integration gibt es nicht", sagt die Mutter. Sie sagt es nicht anklagend, auch nicht traurig. Es klingt eher nach einer nüchternen Feststellung. Sie wäre "voll dafür", Lisa in eine Regelschule gehen zu lassen. Viel sei ja schon getan worden für Kinder mit Handicap und ihre Familien, aber hier fehle doch noch einiges. "Integration gibt es nicht", wiederholt sie noch einmal. Viel könnten Behinderte und Nichtbehinderte voneinander lernen, und vor allem würden Berührungsängste abgebaut. Wenn Eltern ihre Kinder von Lisas Rollstuhl wegziehen, als hätte sie etwas Ansteckendes, dann tut das weh.

"Kinder sind gar nicht so", meint Karin Ultes, "meist sind es die Erwachsenen". In der Schule braucht Lisa eine Begleitung, die all das für sie macht, was Lisa nicht selbst machen kann, und was zu Hause die Eltern übernehmen. Die Kosten für die Kinderpflegerin werden vom Bezirk übernommen – allerdings nicht in voller Höhe. Mit Amelie (20) redet Lisa ganz anders als mit den Eltern – sie ist Vertraute, ja Freundin für die 13-Jährige. "Deshalb wollten wir eine junge Hilfe für Lisa", sagt Karin Ultes.