Herr
Ein Blick in eine ganze andere Zeit

22.08.2014 | Stand 02.12.2020, 22:19 Uhr

Heimatforscher Bernhard Rödig beschäftigt sich seit vielen Monaten mit dem Ersten Weltkrieg. Sein Buch dazu erscheint Ende Oktober - Foto: Petry


Herr Rödig, wie muss man sich das Leben damals vorstellen? Wie sahen zum Beispiel die Straßen aus?
 
Bernhard Rödig: Die Lenbachstraße war gepflastert, die Seitenstraßen waren zum Teil mit Katzenkopfpflaster befestigt. Man hatte dafür Steine, beispielsweise vom Lech, mit der flachen Seite nach oben verlegt.

 

Und die Verbindungen nach Aresing, Waidhofen und in die anderen Gemeinden?

Rödig: Das waren einfache Landstraßen, die bestenfalls geschottert waren.

 

Gab es damals in Schrobenhausen Autos?

Rödig: Ja, aber sehr wenige. Fabrikbesitzer Leinfelder wird eines gehabt haben, eventuell ein Arzt, aber insgesamt kaum ein Dutzend. Im Krieg selbst kamen keine dazu, weil die meisten Reifen damals beschlagnahmt wurden. Einige hatten Fuhrwerke, pferdebespannte Gäuwagerl, manche Fahrräder. Die meisten gingen zu Fuß.

 

Wo hat man damals eingekauft?

Rödig: Normalerweise in den Kramerläden im Dorf oder der Stadt. Da gab es eine ganze Reihe. Sozusagen Tante-Emma-Läden.

 

Was gab es da? Waschmittel?

Rödig: Hier auf dem Land eher Kernseife, es gab die Dinge des täglichen Bedarfs. Vieles wurde auch von fahrenden Händlern abgedeckt, sie boten Kurzwaren wie Nähnadeln bis hin zu Kaffee an, aus Gestellen, die sie auf dem Rücken trugen.

 

Und es gab noch die großen Viehmärkte.

Rödig: Die waren sehr wichtig, sie waren Treffpunkt auch für die Leute aus den Dörfern, die in die Stadt kamen. Die Bauern gingen nach Erledigung ihrer Geschäfte dann meist ins Wirtshaus, gönnten sich ein kräftiges Essen und dazu eine Maß oder auch zwei. Die Wirtschaften hatten ihr festes Publikum. Die Aresinger trafen sich beispielsweise gern im Herzog Max, die, die aus Richtung Edelshausen kamen beim Unterbräu.

 

Dorfwirtschaften gab es aber auch?

Rödig: Ja, schon, aber die waren eher klein, dafür zahlreicher als heute.

 

Wenn man zum Arzt musste . . .?

Rödig: . . . ging man zum Bader oder zum Arzt in der Stadt. Es hatten sich damals schon einige hier niedergelassen. Die sogenannten Bader hatten eine medizinische Grundausbildung, durften aber neben Haare schneiden nur einfache Sachen machen, wie Wunden versorgen, Glieder einrenken oder Zähne reißen. Plombieren oder Gebisse machen, das war den Dentisten vorbehalten, die dafür eine Ausbildung hatten. Es gab damals einen tragischen Fall, der in der Zeitung stand: Da war einem nachts sein Gebiss in den Hals gerutscht. Der Arzt kam, versuchte, es herauszuziehen, was misslang. Dann wollte er es weiter hinunterstoßen. Das ging aber auch nicht. Der Mann wurde dann nach München gefahren, operiert – und starb dabei. Es war der letzte von drei Söhnen des Maschinenhändlers Georg Ruppert aus der Liebfrauengasse, der das Geschäft übernehmen sollte.

 

Tragisch. Welche Schulen gab es damals?

Rödig: Je eine Volkshauptschule für Mädchen und Knaben. Die Oberrealschule kam erst ab 1938. Es gab in der Volksschule verschiedene Fächer: Lesen, Schreiben, Rechnen oder Aufsatz, bei den Mädchen auch handwerkliche Fächer wie sticken.

 

Wie lang ging man damals zur Schule?

Rödig: Sieben Jahre und danach noch drei Jahre Sonntagsschule, später Volkshauptschule genannt. Wer es weiter bringen wollte, musste in ein Internat nach Dillingen oder Ingolstadt.

 

Es gab ja damals kein Fernsehen, kein Radio, immerhin Zeitungen. Als es dann in Sarajewo das Attentat mit weitreichenden Konsequenzen gab, bekam man viel davon mit?

Rödig: Es gab zwei Zeitungen, in Schrobenhausen, das Schrobenhausener Wochenblatt – daraus wurde die Schrobenhausener Zeitung – und den Allgemeinen Anzeiger. Der existierte nur bis 1923. Das waren aber noch keine Zeitungen, die täglich erschienen. Deshalb waren solche Nachrichten erst einige Tage später zu lesen.

 

Diese Neuigkeiten trafen auf Menschen, von denen die meisten ihr Leben lang kaum über München hinaus gekommen waren.

Rödig: Die meisten kamen nicht einmal oft aus ihrem dörflichen Umkreis heraus, die Fahrt nach Schrobenhausen war für manche schon ein Ereignis. Viele Leute hatten keine Zeitung, weil sie sich das damals nicht leisten konnten. Sie haben dann im Wirtshaus gehört, dass der österreichische Thronfolger in Sarajewo ermordet worden ist. Ja, dann wird man nur die Schultern gezuckt haben, das war ja weit weg.

 

Dann aber kamen die Einberufungen.

Rödig: Vor Kriegsbeginn waren die Leute gemustert worden, dann wurde ausgelost, wer zum Militär musste. Die anderen blieben als Landwehr registriert und wurden nicht eingezogen. Wer beim Militär war, blieb zwei oder drei Jahre, je nach Waffengattung. Als der Krieg begann, kamen die Einberufungen. Am Anfang gab es kein großes Problem, weil Freiwillige regelrecht die Kasernen stürmten. Im Buch erzähle ich auch die Geschichte von einem, der von Kaserne zu Kaserne sozusagen hausieren ging, bis er endlich in den Krieg durfte, Christian Knödler.

 

Hat er den Krieg überlebt?

Rödig: Nein, er fiel im April 1918. Aber in sein Tagebuch schrieb er 1914: „Das ist der glücklichste Tag meines Lebens.“ Wenn man spätere Einträge liest, sind sie längst nicht mehr so euphorisch.

 

Haben die Leute auf dem Land damals gewusst, was das bedeutet, Krieg?

Rödig: Die meisten werden eine falsche Vorstellung davon gehabt haben. Sie kannten vielleicht die Geschichten von den Veteranen aus dem 70er Krieg, die die Ereignisse verklärt hatten, denn das Schlechte vergisst man, und das andere erzählt man. Viele werden geglaubt haben, dass der Krieg etwas Tolles ist. „Den Franzmännern, den zeigen wir’s nochmals. Die laufen davon, wenn wir kommen.“

Dann hat sich herausgestellt, dass es ganz anders war.

Rödig: Dieser Stellungskrieg war eine Katastrophe, viele haben ihn nicht überlebt. Manche mussten acht Tage Trommelfeuer am Stück aushalten. Zur Verteidigung wurden vernetzte Schützengräben in mehreren Reihen hintereinander gebaut. Vor Offensiven feuerte man rund um die Uhr. Von 180 Mann, die in den vordersten Stellungen lagen, kamen oft nur 80 zurück. Zwei Wochen später mussten sie wieder vor und fragten sich: Wie viele von uns kehren diesmal wohl noch zurück?

 

Und die Menschen daheim haben davon über die Feldpost erfahren?

Rödig: Zum Teil: Die Feldpost war immens wichtig. Es sind Milliarden von Postkarten und Briefen befördert worden. Der Militärführung war bewusst, dass diese Briefe von daheim ein großer Rückhalt für die Soldaten waren. Die Angehörigen haben darauf gewartet und gehofft, dass ihre Ehemänner und Söhne noch leben. Aber: Die Feldpost wurde zensiert.

 

Wurde viel gestrichen?

Rödig: Durchaus. Aber manche waren erfinderisch. Einer hatte zu Hause im Urlaub ausgemacht, dass er mit „V.“ unterzeichnen werde, wenn er nach Verdun versetzt wird – dieses Schlachtfeld war damals sehr gefürchtet. Die Postkarte kam tatsächlich mit einem „V.“ und die Angehörigen wussten Bescheid. Ein anderer schickte eine Postkarte aus Brüssel, schrieb aber auf die Rückseite: „Ich darf Dir leider nicht schreiben, wo ich bin“. Auf eine andere Postkarte – sie ist auch im Buch erwähnt, schrieb einer sinngemäß: „Es ist mir scheißegal, ob hier zensiert wird, denn die, die uns zensieren, sollen auch einmal wissen, wie es hier zugeht.“ Und diese Karte kam tatsächlich an. Ich habe der Zensur im Buch ein ganzes Kapitel gewidmet.

 

Was kam denn dann wirklich bei den Menschen im Schrobenhausener Land an?

Rödig: Natürlich nur positive Nachrichten. Aber es gab dennoch verschiedene Wahrnehmungen. Es waren eher die Bildungsbürger, die die anfängliche allgemeine Euphorie teilten. Die Menschen auf dem Land waren da weit pragmatischer und damit realistischer. Ich kenne die Geschichte des Schrobenhauseners Johann Beßle, der neun Kinder hatte. Dass der nicht gejubelt hat, als er an die Front musste, ist doch klar: Wie sollte seine Frau die neun Kinder durchbringen und den Hof weiter betreiben? Und was, wenn er fällt? Es gab schon viele, die sich über die Kriegsauswirkungen auch Gedanken machten.

 

Man wird sich gegenseitig geholfen haben.

Rödig: Zum Teil. Kriegsgefangene wurden in der Landwirtschaft eingesetzt. Die Leute hatten viel Arbeit, die Arbeitskräfte waren weg, das waren harte Zeiten. Und es wurde auch noch viel beschlagnahmt, es gab eine Ablieferungspflicht, für Milch, Eier, Getreide, Schweine. Durch die Blockade der Engländer wurde die Ernährungslage immer schlechter, im „Steckrübenwinter“ 1916 fehlte es an allem. Viele Ältere mit schwacher Gesundheit und viele Kinder in Städten überlebten diesen Winter nicht, auch im Schrobenhausener Land stieg die Sterblichkeit an.

 

Es herrschte also Not, Elend und Angst . . .

Rödig: .. . . vor allem um die Angehörigen im Krieg. Die Briefträger hatten damals eine furchtbare Pflicht, sie brachten die Nachricht vom Tod „auf dem Felde der Ehre“. Sie wussten, dass die Frauen schon Witwen waren, noch bevor sie die Post übergaben.

 

1918, 1919 kehrten dann die Kriegsgefangenen zurück.

Rödig: Einige Verwundete im Austausch zum Teil schon vorher. Es ist aber nicht so, dass dann das normale Leben weiterging. Mit einem Schlag kamen unheimlich viele Männer zurück nach Hause und wollten Arbeit haben – Arbeitslosigkeit drohte.

 

Und psychologische Betreuung wie heute gab es auch nicht.

Rödig: Sie war noch unbekannt. Schon während des Krieges gab es die sogenannten Kriegszitterer. Ihr Körper wurde von ständigen unkontrollierbaren Zuckungen heimgesucht. Man hielt die Männer für Simulanten. Als sogenannte Therapie übergoss man sie mit Eiswasser, behandelte sie mit Elektroschocks, manche bekamen Sonden in den Hals. Das waren brutale Methoden.

 

Das heißt, es kamen viele gebrochene Männer nach Hause.

Rödig: Jede Menge. Wenn heute ein Unglück passiert, werden Opfer sofort psychologisch betreut. Was diese Menschen damals in den Schützengräben mitgemacht haben – eine Katastrophe. Tagelange Todesangst. Dass so manche Leute psychische Wracks waren als sie zurückkehrten, kann man sich gut vorstellen.

 

Wenn man darüber ein Buch schreibt, zieht einen das nicht selbst runter?

Rödig: Oh ja. Ich habe viel Feldpost gelesen. Das macht einem bewusst, was es bedeutet, im Schützengraben zu sitzen und auf Verstümmelung oder den Tod zu warten. Dann die sanitären Verhältnisse. Läuse, denen man nicht Herr wurde. Da konnte man tagelang nicht schlafen, weil es ständig juckte. Dazu Typhus und andere Krankheiten. Ich habe die Schilderung eines Soldaten gefunden, der beim Ausheben von Schützengräben auf verschüttete Soldaten stieß. Oder von einem, der tagelang vor Schmerzen schreiend im Niemandsland zwischen den Fronten lag, und den keiner bergen konnte. Das muss furchtbar gewesen sein.

 

Als die Menschen nach Hause kamen, wie gingen sie dann damit um?

Rödig: Viele verdrängten die Erinnerungen. Ich habe 50 Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg mit Soldaten über ihre Erlebnisse in Krieg und Gefangenschaft gesprochen, manche schafften es nicht, darüber zu reden. Einer wollte es versuchen, aber er konnte nur weinen. Das wird damals nicht anders gewesen sein. Aus begeisterten Freiwilligen waren desillusionierte, traumatisierte Menschen geworden, oft auch noch von den Folgen schwerer Verwundungen gezeichnet.

 

Das Gespräch führte

Mathias Petry.