Vohburg
Auf einmal war alles anders

Vor 25 Jahren stand eine Vohburger Familie nach einem Unfall vor dem Nichts – ein Blick zurück

30.11.2014 | Stand 02.12.2020, 21:55 Uhr

Auch die Bayern helfen: Monika B. (links sitzend) mit Manager Uli Hoeneß und Martin Schmid (2.v.r.) beim Benefizspiel im Dezember 1989 auf dem Irschinger Sportplatz. Unser Foto rechts zeigt die damals zehnjährige Nicole mit ihrer sechs Jahre jüngeren Schwester. - Foto: PK-Archiv

Vohburg (PK) „Mit unserem Schicksal haben wir damals etwas ins Rollen gebracht, das seitdem für viele Familien Unterstützung in schwierigen Lebenssituationen bedeutet“, sagt Nicole C. aus Vohburg. „Ich bin sehr froh darüber, dass auch anderen geholfen wird.“

Nicole war zehn Jahre alt, als ein schlimmer Unfall ihre Familie wie ein Schlag traf: Am 28. November 1989 kam ihr Vater bei einem Autounfall ums Leben – und ein kleines Mädchen musste ganz schnell erwachsen werden.

Gemeinsam mit seinem Arbeitskollegen war der 34-Jährige Gerhard B. auf der Bundesstraße 300 zwischen Reichertshofen und Langenbruck unterwegs, als der Wagen aus ungeklärter Ursache auf die Gegenfahrbahn geriet und frontal mit einem Lastwagen zusammenstieß. Die beiden Arbeitskollegen waren auf der Stelle tot. Nicole kann sich noch daran erinnern, dass die Polizei an der Haustür klingelte und von da ab alles anders war: „Anfangs begreift man das ja überhaupt nicht“.

Erst kurze Zeit vorher war die Familie in das eigene, längst noch nicht fertiggestellte Haus in Vohburg gezogen. Rollstuhlgerecht sollte es werden, denn die Mutter litt an Multipler Sklerose. Der Verlust von Ehemann und Vater, Krankheit, Existenzängste und das Leben in einem Haus, das zum Teil noch ein Rohbau war: Schlimmer konnte es für Monika B. und die zehn und vier Jahre alten Töchter nicht kommen. Mit der zu erwartenden kleinen Rente hätte die junge Witwe unmöglich das Bankdarlehen tilgen und die Kosten für die weiteren Arbeiten am Haus aufbringen können.

Das Schicksal der Vohburger Familie löste schließlich eine Welle der Hilfsbereitschaft aus, weitaus größer, als die Initiatoren gehofft hatten. Über seine jährliche Spendenaktion „Vorweihnacht der guten Herzen“ rief der Pfaffenhofener Kurier im Advent 1989 gezielt zur Unterstützung der so hart getroffenen Familie auf, und bereits nach zwei Wochen waren rund 300 000 Mark auf den Spendenkonten eingegangen. Damit konnten die Bankschulden zurückgezahlt, die weiteren Arbeiten am Haus ausgeführt und ein Rollstuhllift eingebaut werden. Auch an eine Ausbildungsrücklage für die Kinder wurde gedacht. Die Spendenbereitschaft hielt an, und so flossen die Gelder, die nicht mehr zur Existenzsicherung der Vohburger Familie benötigt wurden, im Jahr darauf als Startkapital in den neu gegründeten gemeinnützigen Verein „Familien in Not“.

„Die Kinderzimmer oben und das Bad existierten praktisch gar nicht; wir haben im Wohnzimmer auf dem Sofa geschlafen“, denkt Nicole C. 25 Jahre zurück. Sie weiß noch, dass es auf einmal hieß „Wir haben keine Schulden mehr!“ und aus dem Rohbau richtige Räume wurden: „Alles bezahlt und fertig ausgebaut. Die Zeitungsartikel über die Spendenaktion haben wir alle ausgeschnitten und aufgehoben.“ Natürlich auch die Berichte über das Benefizspiel, zu dem der FC Bayern München auf Initiative des damaligen Vohburger Stadtrates und heutigen Bürgermeisters Martin Schmid gegen eine Stadtauswahl antrat.

Dank der großen Unterstützung erschien die Zukunft nun nicht mehr als schwarze Wolke, aber unbeschwert war das Leben der zehnjährigen Nicole nicht, denn immer mehr übernahm sie im Haushalt Aufgaben einer Erwachsenen; die Kindheit wurde übersprungen. Jede Nacht stand das Mädchen auf, um seine schwer kranke Mutter zu versorgen: „Das hatte bis dahin mein Vater gemacht; er arbeitete aus diesem Grund nur in Frühschicht. Anders hätte es ja nicht funktioniert“. Vormittags wurde die Mutter durch ambulante Pflege betreut, danach war die Familie auf sich allein gestellt. Das Kümmern um die Mutter, Haushalt, Hausaufgaben, Einkaufen und die Beschäftigung der sechs Jahre jüngeren kleinen Schwester waren eine enorme Leistung; Zeit für sich selbst oder Freundinnen blieb da nicht. Auch die Teenagerzeit sei irgendwie an ihr vorbeigezogen, meint Nicole: „Ich wurde halt schnell erwachsen“. Dass die kleine Schwester nicht in ihren arbeitsreichen Tagesablauf eingebunden wurde, darauf hat Nicole stets geachtet: „Sie sollte einfach Kind sein dürfen und Spaß haben, das war mir ganz wichtig“.

Nach dem Schulabschluss begann Nicole eine Ausbildung als Friseurin, musste sie aber nach eineinhalb Jahren abbrechen: „Die Arbeit im Salon, dazu die Berufsschule, der Haushalt und die Pflege der Mama – das ging nicht mehr, da bin ich fast zusammengeklappt.“ Die Schwester aus dem Belastungsstress herauszuhalten, das stand für sie weiterhin ganz oben auf der Liste, und so konnte die Jüngere ihre Lehre erfolgreich abschließen. Heute ist Nicole verheiratet, hat drei Kinder und wohnt – zusammen mit ihrer Mutter – noch im gleichen Haus, das der Familie durch die Spendenaktion gesichert wurde. Die Pflegebedürftigkeit der Mutter hat die höchste Stufe, denn sie ist bettlägerig, kann nicht mehr sprechen und wird künstlich ernährt. Nach wie vor kümmert sich die Tochter um sie, rund um die Uhr: „Die Mama in eine Einrichtung zu geben, nein, das käme nicht in Frage“.

Sie selbst hat bis heute nie Zeit für ein Hobby gehabt – „Da würde mir jetzt gar nichts einfallen“ – doch bei ihren Kindern legt sie Wert auf Freunde, Vereinsleben und Sport. Nicoles Aufgabenpensum würde locker für zwei fleißige Menschen reichen; erstaunlicherweise spricht man mit einer fröhlichen jungen Frau, die nicht jammert, sondern sachlich ihre Lebenssituation schildert. Ihr einziges Zugeständnis: „Man kommt halt immer wieder an seine Grenzen...“