Pfaffenhofen
Urkomisch und doch todernst

Szenische Lesung "Die letzten Tage der Menschheit" trifft ins Mark

04.04.2014 | Stand 02.12.2020, 22:51 Uhr

Als Wiener Kleinbürger katapultierte Christian Weigl das Publikum schon in der ersten Szene mitten hinein ins pralle Leben der Sirkecke an der vornehmen Kärtnerstraße in Wien, wo Karl Kraus jeden Akt von „Die letzten Tage der Menschheit“ beginnen lässt - Foto: Hammerl

Pfaffenhofen (PK) „Die letzten Tage der Menschheit“ sind am Donnerstagabend im Schyren-Gymnasium angebrochen. So scheint es jedenfalls, als die Pfaffenhofen Gruppe Lesezeichen um Lorenz Kettner ihre szenische Lesung des gleichnamigen Werks des Kulturkritikers Karl Kraus beginnt.

Nachdem Agnes Reuß, Fachbetreuerin Geschichte, den historischen Hintergrund erläutert hat, erhebt sich Christian Weigl, torkelt, gestikuliert und offenbart in breitem Wienerisch die ganze propagandistische Kriegsbegeisterung des Jahres 1914. Mit „fliehenden Fahnen“ will sich der Wiener Kleinbürger, den er verkörpert, in den „heiligen Verteilungskrieg“ stürzen, „wie Phönix dastehen“ und den Feinden Einhalt gebieten, um sich schließlich „wie eine Phalanx aus der Asche zu erheben“. Ja, der Kleinbürger steht voll hinter der Sache, „für die wir ausgezogen – wurden“, und das Publikum muss fast ein wenig widerwillig lachen. Zu komisch sind Satzbau- und Grammatikfehler, vor allem aber die mythologischen Verwechslungen, die dem einfachen Mann unterlaufen.

Kraus hat dem Volk aufs Maul geschaut und 220 Miniszenen für sein Theaterstück „Die letzten Tage der Menschheit“ daraus gemacht. 30 Szenen hat die Gruppe Lesezeichen in ihre gut zweistündige multimediale Lesung gepackt, sie mit Musik von alten Schellackplatten, Märschen, Küchenliedern, Zarah-Leander-Songs und Operettenmelodien, voneinander getrennt, mit Bildern illustriert und leiht den Kraus’schen Karikaturen Stimme und Gestik. Lorenz Kettner und Weigl übernehmen die tragenden Rollen in ausgefeilt professioneller Manier, aber auch Moira Grohé, Maria Ilg und Peter Sampel, alle drei Elftklässler des Schyren-Gymnasiums, überzeugen mit feiner Stimmmodulation, punktgenauen Einsätzen und unaufgeregtem, aber pointiertem Vortrag. Peter Sampel gefällt als Erzähler mit klarer Aussprache, die deutlich mit den nuschelnden, im Befehlston schnarrenden oder vorsichtig-schüchtern anfragenden Typen kontrastiert, die das Quartett neben ihm in rasantem Wechsel verkörpert. Da werden Englisch sprechende Japaner oder französisch sprechende Türken angepöbelt, bis sich jemand darauf besinnt, dass die, „die einen Fez tragen, Bundesgenossen sind“. Seine Majestät Wilhelm II. nötigt seinen Lieblingsdichter Ludwig Ganghofer zum Essen, will aber gleichzeitig wissen, was er von der Untreue der Italiener halte, was der erst beantworten kann, nachdem er runtergeschluckt hat – urkomische Szenen vor todernstem Hintergrund. Das gilt auch für das Spiel mit Dialekten. Wenn Berliner und Wiener aufeinanderstoßen, manchmal noch ein Schwabe mitmischt, dann sind Missverständnisse vorprogrammiert. Unglaubliche Wortspiele lässt der Oberbombenwerfer zu, der nicht mit einem zu verwechseln ist, der „Bomben oba wirft“, aber anders als der Oberkellner nicht nur mit „Herr Ober“ angesprochen werden darf. Ein Wachtmeister erschlägt einen armen Dienstmann schier mit seinem breiten Wortschwall, der tapfere Feldkurat segnet Waffen an der Front, indem er „mit gutem Beispiel vorangeht“ und Gewehre sowie Geschütz abfeuert, was sich daraufhin auch die einzige k.u.k.-Kriegsberichterstatterin, Alice Schalek, ertrotzt.

Kraus’ bittere Ironie, sein tiefer Sarkasmus treffen ins Mark, aber sie lassen nicht verzweifeln, sondern dank des durchblitzenden, wenn auch schwarzen Humors hoffen, dass die Menschheit dazulernen kann. Jammerschade und völlig unverständlich daher, dass sich nur gut 60 Zuhörer zu der Veranstaltung im Rahmen der Feierlichkeiten zum 50-jährigen Jubiläum des Schyren-Gymnasiums eingefunden hatten, darunter praktisch keine Schüler, von den Lesenden und den Technikern Manuel Andre und Patrick Burkart mal abgesehen. Dabei war der Abend genau das, was Schuleiter Dietmar Boshof eingangs gewünscht hatte – ein nachdenkenswerter und pädagogisch wertvoller. Und ein unterhaltsamer noch dazu.