Pfaffenhofen
Musik-Donner im schwülen Sommer

Ralf Yusuf Gawlicks Suche nach den Wurzeln spielt das Hugo Wolf Quartett auf Weltklasseniveau

26.06.2016 | Stand 02.12.2020, 19:37 Uhr

Am Ende umarmt Ralf Yusuf Gawlik die Streicher. - Foto: Feßl

Pfaffenhofen (PK) Im kulturverwöhnten Pfaffenhofen ereignen sich Höhepunkte, die einem Großstadttempel Ehre machen würden. "Von der Carnegie Hall in den Rathaussaal" wurde der Auftritt des Hugo Wolf Quartett aus Wien angekündigt. Großspurige Worte, denen musikalische Taten folgten.

Man höre und staune: Gleichzeitig war der Auftritt der Starvirtuosen verbunden mit dem Namen Ralf Yusuf Gawlick, einem zeitgenössischen Komponisten, der 1969 in Pfaffenhofen zur Welt kam. Seine kurdische Mutter gab ihn zur Adoption frei, gelebt hat Gawlick in Pfaffenhofen nie. Aber seine Aufarbeitung der eigenen Biografie führt ihn in seine Geburtsstadt: Mit "Imagined Memories" liefert er eine musikalische Erinnerung, bei der das Hugo Wolf Quartett ihn unterstützt - und sein Werk zur europäischen Erstaufführung nach Pfaffenhofen bringt. Premiere hatte dieses Neueste, was die sogenannte Neue Musik zu bieten hat, vor zwei Monaten in New York, in eben jener Carnegie Hall.

Gespannte Erwartungen also aufseiten der Zuhörer, die trotz Schwüle und Sommerhitze in Kombination mit Gewitterregen in den Rathaussaal gefunden hatten. Und das Fazit vorab: Bereut hat es sicher kein einziger. Im Gegenteil. Der Riesenapplaus war mehr als ein Willkommensgruß an einen der Ihrigen, sein Werk wurde hoch bejubelt und die Könner an der Violine (Sebastian Gürtler und Regis Bringolf), an der Viola (Subin Lee) und am Cello (Florian Berner) begeisterten bereits im ersten Teil die Klassik-Fans. Einfühlsam und schnörkellos spielten sie ein Schubert-Meisterwerk, sein "Rosamunde"-Streichquartett in a-Moll. Das klassische Aufbauschema legt die Grundlagen für einen Spannungsbogen, der das Werk völlig umschließt. Dabei werden die Allegri bereits vom Komponisten vor ungestümem Geschwindigkeitsrausch geschützt. Und die Spielweise des Quartetts räumte der berühmten schubertschen Seele angemessenen Platz ein. Der Eröffnungssatz war durchdrungen von Intensität. Das erste Thema besteht aus dem denkbar einfachsten Mittel, einer traurigen Weise mit einem absteigenden a-Moll-Arpeggio - der ideale Einstieg, um Zuhörer einzufangen. Gebannt folgte diese dem Kommenden, nach diesem Brückenschlag zwischen dem Komponisten und dem Publikum. Einen weiteren Brückenschlag leistet Schubert, wenn er die Grenzen zwischen kontrollierter Ästhetik und freier Fantasie überschreitet; und somit den Weg in die Romantik, ja gar in die Moderne weist. So lässt Schubert vor allem im zweiten Satz seiner bittersüßen Stimmung freien Lauf, das Dur des Satzes hellt ihn nicht auf, im Gegenteil, man leidet fast. Die Virtuosen an ihren Streichinstrumenten ließen die Zuhörer in vorzüglicher Weise teilhaben an einem großen Musikerlebnis.

Nach der Pause ergriff Ralf Yusuf Gawlick das Wort. Es war ihm ein Bedürfnis, zu seinen "Imagined Memories" ein paar Worte zu sagen, schließlich war es eine europäische Erstaufführung, ein Stück, das noch niemand im Saale kannte und das doch so viel mit Pfaffenhofen zu tun hat: Seine Geburtsstadt durfte bei der Aufarbeitung biografischer Besonderheiten nicht fehlen.

Um Existenzfragen kreist Gawlicks Musik, die nicht linear, sondern sich in Kreisbewegungen dem Thema nähert. Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft stehen in einer Wechselbeziehung. Gawlick sagte: "Der Schlüssel für unsere Identität ist die Erinnerung." Und weiter erläutert er: "Imagined Memories ist mein musikalisches Archiv; es enthält intime musikalische Reflexionen einer imaginären Erinnerung, einer fernen, von mir getrennten Vergangenheit." Er erinnere sich an Pfaffenhofen nur in der Vorstellung, deshalb musste er irgendwann diese Geburtsstadt sehen. Jetzt war er da, jetzt wollte er sein Suchwerk genau hier hören.

Und noch auf etwas stößt der intensiv Suchende immer wieder: bekannte Historie, musikalische Weisen, die allzu bekannt sind. So wie Schuberts "Rosamunde", woraus er ein Zitat in sein Werk einbaute. Und der Zuhörer konnte an diesem Erinnerungserlebnis teilnehmen, durften es ein Stück weit nachempfinden.

Gawlick baute im Konzertsaal drei Dreiecks-Schautafeln auf, die das gedankliche Wechselspiel zwischen "Davor", "Trennung" und "Danach" in akribischer Geometrie darlegen. Musik mit Bauplan, als sichtbarer Beleg, welche Gedanken durch den Kopf geistern. Immer wieder, immer wieder.

Mit Geräuschen, erzeugt an stumpf klingenden Saiten, setzt die Komposition ein. Rumorenderweise wühlen sie im Gehirn. Dann geht quasi eine Türe auf, aus Geräuschen werden Tonfolgen, ansatzweise Melodien, schließlich auch Zeit für Zitate - zum Beispiel Schubert. Jetzt findet er Halt. Schuberts Existenz als Eckpfeiler, an dem man sich festhalten kann. Doch aufgewühlt geht es weiter, teils konfus klingend. Was beruhigt, ist vergangen. Jetzt sucht er wieder nach seiner Identität. Das Hugo Wolf Quartett hilft dabei mit feinsinnigem Einfühlungsvermögen. Als wäre es ihre Suche höchstpersönlich.

Für die Zuhörer wurden die Gefühle spürbar. Die Musik steckte an, man konnte "gemeinsam empfinden", eine tragfähige Brücke zwischen Gawlick, dem Suchenden, und seinem Publikum, den Mitfühlenden, entstehen sehen. Reale Donner zwischendurch passten - wie bestellt - zu den musikalischen Schicksalsschlägen, Tiefgang wechselte mit oberflächlicher Wehmut ab. Die Suche geht weiter, dem Geistesblitz folgte behäbiges Brainstorming, schließlich Fragezeichen, Fragezeichen, Fragezeichen.

Den Streichern wurden symbolisch mit kleinen Präsenten gedankt, Komponist Gawlick erhielt eine Grafik von Dieter Eckert. Viel Symbolik, viel Applaus. Und ein Dankeschön.