Pfaffenhofen
Gespräch mit Landrat Wolf über Asylpolitik: "Die neue Realität annehmen"

03.09.2015 | Stand 02.12.2020, 20:51 Uhr

Erhöhtes Jahresziel: Landrat Martin Wolf und seine Mitarbeiter müssen sich heuer voraussichtlich um die Unterbringung von 1650 Asylbewerbern kümmern.

Pfaffenhofen (PK) Landrat Martin Wolf über Asylpolitik, das Aus für die Ein-Prozent-Quote und Sozialwohnungsbau im großen Stil

In Oberstimm ist in dieser Woche das bundesweit erste Rückführungszentrum für Asylbewerber mit geringen Chancen auf Anerkennung eröffnet worden. Landrat Martin Wolf (CSU) steht voll hinter dieser Einrichtung, wie er im Gespräch mit unserer Redaktion rund um das Thema Asyl erklärte. Aber auch wenn viele Zuwanderer früher oder später wieder in ihre Herkunftsländer zurückkehren – zahlreiche Flüchtlinge werden bleiben. „Damit verändert sich unsere Heimat dauerhaft“, sagt Wolf: „Je früher wir die neue Realität annehmen, desto besser kommen wir damit zurecht.“

Herr Wolf, was bringt das Oberstimmer Zentrum für Balkanflüchtlinge?

Martin Wolf: Wir müssen die Bearbeitung der Asylanträge effizienter gestalten. Es hat keinen Sinn, Personen aus Ländern, bei denen es eine Anerkennungsquote von vielleicht einem Prozent gibt, monatelang durch Einrichtungen in ganz Deutschland zu schicken. Das belastet das Verfahren ungeheuer. Darum bin ich für diese Bündelung von Gruppen dankbar und verspreche mir eine Entlastung bei der Unterbringungssituation. Es ist gut, dass das Zentrum zum 1. September wirklich seinen Betrieb aufgenommen hat, das ist ein Signal, dass es nicht bei Reden bleibt, sondern gehandelt wird.

 

Nach Oberstimm sollen maximal 500 Asylbewerber vom Balkan kommen. Bleibt es trotz der anhaltenden Flüchtlingsströme und des bevorstehenden Winters dabei, obwohl man auf dem Kasernengelände noch 1000 Betten mehr unterbringen könnte?

Wolf: Es ist richtig, dass wir dort gemauerte Gebäude haben, die grundsätzlich Zeltstädten und Containersiedlungen vorzuziehen sind. Aber es gibt auch Anwohner. Und die Oberstimmer Belegung strahlt in erster Linie auf die unmittelbare Umgebung und die Stadt Ingolstadt aus. Wir müssen uns also eng mit Manching und Ingolstadt absprechen. Derzeit möchte ich keine Zahlen für eine weitere Belegung nennen und nicht vorgreifen. Das Ganze erfordert weitere Gespräche.

 

Wie viele Asylbewerber hat Ihre Behörde unterzubringen?

Wolf: Im Moment rund 1000. Wir hatten das Jahresziel 1150, aber nach den neuesten Prognosen hat die Regierung das auf 1650 korrigiert – also um volle 500 Personen erhöht.

 

Und wie viele abgelehnte Asylbewerber werden aus dem Landkreis abgeschoben?

Wolf: Im Jahr vielleicht 100. Bisher haben keine größeren Rückführungen stattgefunden und mit Ausnahme der Balkanflüchtlinge ist davon auch keine nennenswerte Entlastung zu erwarten – es sei denn, Kriege würden enden.

 

Gibt es für Ihre Mitarbeiter und die freiwilligen Helfer eine Schmerzgrenze bei den Zuweisungszahlen ab der die Unterbringung und Betreuung nicht mehr funktioniert?

Wolf: Die große Politik nennt keine Schmerzgrenze und insofern ist es müßig, eine solche Grenze auf der unteren Ebene zu definieren, die dann am nächsten Tag über den Haufen geworfen wird. Meiner Einschätzung nach ist die Situation so, dass wir schrittweise mit den Standards runter müssen.

 

Wie sieht das konkret aus?

Wolf: Die Unterbringungssituation wird immer schwieriger. Wir haben dezentral begonnen mit einzelnen Wohnhäusern, heute sind wir auf der Rennbahn oder im Kasernenbereich und in der Patriotstellung im Feilenmoos. Dort wollten wir zum Beispiel maximal 150 Personen unterbringen, jetzt sind wir bei 184. Wir haben also voll belegte Zimmer. Während früher die Flüchtlinge sehr enttäuscht waren, wenn sie in so beengten Verhältnissen untergebracht wurden, weil ihnen die Schleuser ein anderes Bild vermittelt hatten, akzeptieren sie jetzt, dass es eng und immer enger wird. Da sind mittlerweile viele Wahrheiten über die Situation in Deutschland in ihrer Heimat angekommen und die Leute sind froh, wenn sie bei uns ein Dach über dem Kopf, Essen und Kleidung haben.

 

Gilt denn die Regelung noch, nach der die Gemeinden eine Flüchtlingsquote von etwa einem Prozent ihrer Bevölkerung aufnehmen sollen?

Wolf: Die Ein-Prozent-Regel müssen wir abhaken. Das hätte bei 1150 Flüchtlingen noch funktioniert, bei 1650 geht das nicht mehr.

 

Was antworten Sie, wenn ein Bürgermeister anruft und sagt, dass er keine Zuweisungen mehr will, weil in seiner Gemeinde die Ein-Prozent-Regel erfüllt ist?

Wolf: Diese Frage-und-Antwort-Situation haben wir zur Zeit. Ich sage den Bürgermeistern dann, dass sie sich gleich mal auf zwei Prozent einstellen sollen. Wir leben von Monat zu Monat, hoffen aber, dass wir mit zwei Prozent weit ins erste Halbjahr 2016 kommen.

 

Sie haben im Gegensatz zu manchen Ihrer Kollegen anfangs sehr auf dezentrale Unterbringung gesetzt, während in anderen Landkreisen gleich Hallen oder Containersiedlungen belegt wurden. Warum sind Sie diesen Weg gegangen?

Wolf: Mein Ziel war, dass möglichst viele Kommunen und möglichst viele Menschen mit der Situation in Kontakt kommen. Es sollte nicht so sein, dass das nur einzelne Straßenzüge erleben und die dafür umso massiver, während ein anderer Teil der Bürger sagen kann, „das geht mich nichts an“. Aus der Erfahrung heraus hat sich für mich bestätigt, dass die Menschen umso souveräner mit der Situation umgehen, je mehr sie unmittelbaren Kontakt zu den Flüchtlingen haben. Das gilt auch für Problemlagen, die ich nicht wegreden möchte.
 

Kommen Ihre Mitarbeiter mit der Zusatzarbeit durch die Flüchtlingsflut zurecht oder braucht das Landratsamt Verstärkung?

Wolf: Unsere Führungskräfte haben das sehr gut organisiert und unsere Mitarbeiter machen das hervorragend. Wir sind im Vergleich zu anderen Landkreisen, die teilweise um bis zu 30 Personen ihr Personal aufgestockt haben, unterdurchschnittlich besetzt. Wir haben zehn Mitarbeiter für das Ausländeramt und die Sozialabteilung neu eingestellt und müssen heuer voraussichtlich noch um fünf weitere aufstocken.

 

Arbeiten Ihre Leute ständig an der Belastungsgrenze?

Wolf: Ich achte darauf, dass meine Mitarbeiter nicht überfordert sind. Und ich weise immer wieder darauf hin, dass man keine Überversorgung organisieren soll. Wir haben auch viele bedürftige Menschen im Landkreis, die sich jeden Antrag selber besorgen müssen und die das ganze Jahr keine persönliche Ansprache von einem Betreuer bekommen. Wir müssen ganz nüchtern sehen, dass die Flüchtlinge auch den ganzen Tag Zeit haben, auf dem Amt etwas zu erledigen. Auch die Ehrenamtlichen bitte ich, sich nicht zu überfordern und auf sich selbst zu achten. Wir brauchen sie auch im nächsten Jahr noch.

 

Nach den Brandanschlägen auf Asylbewerberheime – bekommen Sie überhaupt noch Wohnungsangebote?

Wolf: Bei uns wurden nach diesen Anschlägen mehrere Mietangebote zurückgezogen. Wir haben aber auch Vermieter, die dem überhaupt keine Bedeutung beimessen und sicher sind, dass so etwas in Bayern normalerweise nicht passiert.

 

Die Hilfsbereitschaft im Landkreis ist groß. Hat sich die Stimmungslage in der Bevölkerung in den vergangenen Monaten wegen der immer mehr anschwellenden Flüchtlingswelle jetzt aber verschlechtert?

Wolf: Es ist insgesamt eine sehr positive Stimmung in der Bevölkerung. Da hat auch unsere Strategie Früchte getragen. Denn überall, wo wir Flüchtlinge dezentral untergebracht haben, haben die Nachbarn gesehen, dass sie zwar jetzt andere Begegnungen auf der Straße haben, aber sich sonst das Leben nur minimal verändert.

 

Werden Sie auch mit Stammtischparolen konfrontiert?

Wolf: Die gibt es natürlich, und es gibt auch eine rechte Szene, die nach Nährboden sucht, um sich auszubreiten. Doch für mich wird da auch vieles hochgespielt. Es ist halt nicht auf den ersten Blick erkennbar, wer in eine kritische Flüchtlingsdiskussion einsteigt und wer rechtsradikale Gedanken hat. Das macht das Ganze schwierig. Aber wenn jemand darüber diskutiert, wie viele Flüchtlinge der Landkreis oder die Bundesrepublik vertragen, ist das legitim. Es kann nicht sein, das bestimmte Themen nicht mehr angesprochen werden dürfen. Grundsätzlich darf man nicht müde werden, zu sagen, dass sich bei uns das Zusammenleben verändert, aber dass diese Veränderung für uns verträglich bleiben muss.

 

Viele Leute haben Angst, dass durch die Asylbewerber die Kriminalität zunimmt. Ist diese Befürchtung Ihrer Einschätzung nach begründet?

Wolf: Die Polizeistatistik bestätigt nicht, dass es in diesen Gruppen ein Mehr an Kriminalität gibt. Wer in dieser Hinsicht auffällt, verliert sehr schnell sein Bleiberecht. Es geht hin und wieder um Anmache von Mädchen und Frauen. Hier sind wir alle gefordert, die jungen Männer, die aus anderen Kulturen kommen, gelassen aber bestimmt darauf hinzuweisen, was bei uns geht und was nicht. Im Feilenmoos sind uns in diesem Badesommer übrigens keine Probleme bekannt geworden.

 

Viele Flüchtlinge, die jetzt zu uns kommen, werden dauerhaft bleiben. Sie brauchen Wohnungen und auf diesem Sektor herrscht bereits Mangel. Wie soll dieses Problem gelöst werden?

Wolf: Weil viele Flüchtlinge in großen Einrichtungen oder Altbauten untergebracht sind, können wir die Wohnsituation gerade noch so austarieren. Aber wir brauchen Wohnungsbau im großen Stil und sind intensiv mit den Bürgermeistern im Gespräch, wie wir das organisieren. Wir müssen Wohngebiete ausweisen, über das Einheimischenmodell Flächen mobilisieren und die gezielt für den sozialen Wohnungsbau verwenden. Das heißt, neue Gebiete müssen mit großen Wohnblocks bebaut werden. Das ist zwar ein für uns ungewohntes Bild, aber doch nicht neu, weil man in den Nachkriegsjahren ähnlich handelte. Wir brauchen da viel Schub vom freien Markt. Der Staat alleine kann das nicht leisten, muss aber durch Steuererleichterungen und Abschreibungsmöglichkeiten Anreize geben.

 

Wie viele Wohnungen brauchen wir in den nächsten Jahren? Haben Sie eine Richtschnur?

Wolf: Jede Gemeinde sollte für ein Prozent der jeweiligen Einwohnerzahl sozialen Wohnungsbau anstreben. Und dabei dürfen wir nicht nur auf die Zentren schauen, auch die kleineren Gemeinden, die das noch gar nicht gewohnt sind, müssen in ihren Wohngebieten sozialen Wohnungsbau anbieten.

 

Selbst Leute aus dem linken Lager, die Ihrer Arbeit als Landrat sonst kritisch gegenüberstehen, loben ihr Krisenmanagement auf dem Asylsektor und ihren unbürokratischen Umgang mit auftretenden Problemen. Liegt Ihnen dieser Themenbereich besonders am Herzen oder warum läuft das im Vergleich zu anderen Landkreisen so reibungslos?

Wolf: Wenn man zum Beispiel über die Länge eines Schwimmbeckens diskutieren muss, kann man dabei natürlich verschiedene Einstellungen und Charaktereigenschaften nicht zeigen. Ich glaube aber gar nicht, dass ich dieses Thema anders angehe als andere Themen, höchstens etwas unbeirrter. Ich bin mir hier bei meinem inneren Kompass zu 100 Prozent sicher.

 

Sie hatten viele Begegnungen mit Asylsuchenden. Was hat Sie dabei am tiefsten beeindruckt?

Wolf: Am meisten beschäftigen mich die Erlebnisse von Menschen, die aus radikalen Systemen zu uns kommen, wie zum Beispiel die Eritreer. Die jungen Männer werden alle zum Zwangsmilitärdienst eingezogen, als Mördertruppe losgeschickt, und müssen komplette Ortschaften mit Frauen und Kindern auslöschen. Die werden um ihr Leben betrogen, das ist der grausamste Missbrauch, den man mit einem Menschen machen kann. Es ist furchtbar, dass dieses organisierte politische Verbrechen möglich ist.

 

Wenn Sie morgen Bundeskanzler würden, was würden Sie in Sachen Asylpolitik anpacken?

Wolf: Ich würde die gerechtere Verteilung auf die europäischen Länder sofort angehen und zwar genauso wie die Griechenland-Problematik angegangen wurde. Wenn es da möglich war, binnen einer Woche zwei Gipfel zu organisieren, dann wird es doch möglich sein, so lange zwei Gipfel pro Woche zu veranstalten, bis wir die europäische Verteilung gelöst haben. Da wird’s höchste Zeit. Jetzt hat die Diskussion eine Intensität bekommen, die ich mir schon vor einem Jahr gewünscht hätte. Aber wir haben auch eine Dimension erreicht, in der wir dringend neue Weichenstellungen und vor allem Perspektiven brauchen.