Pfaffenhofen
Der letzte Jude im Bezirk

Der Arzt Hermann Hamburger verharrte bis 1938 in Wolnzach – in der Reichspogromnacht wurde er ins KZ Dachau verschleppt

08.11.2013 | Stand 02.12.2020, 23:27 Uhr

Das Ehepaar Meinstein wurde in der NS-Zeit Opfer der Judenhetze in Pfaffenhofen. - Foto: oh

Pfaffenhofen (PK) Die Reichspogromnacht jährt sich zum 75. Mal. In jener Nacht zum 10. November 1938 hatten schon fast alle Juden den Bezirk Pfaffenhofen verlassen. Nur der Wolnzacher Arzt Hermann Hamburger wollte nicht emigrieren – und wurde ins KZ Dachau verschleppt.

Vom Frontkämpfer zum Geächteten, vom Arzt zum Entrechteten – zum Jahrestag der Reichspogromnacht erzählt der Pfaffenhofener Heimatforscher und Autor Reinhard Haiplik („Pfaffenhofen unterm Hakenkreuz“) die Geschichte von Hermann Hamburger:

Im November 1938 hatten fast alle jüdischen Mitbürger Pfaffenhofen verlassen. Das Leben in der Stadt war für sie unerträglich geworden: Primitivste Propaganda verrohter NSDAP-Funktionäre, ständige Erniedrigung, ständige Entwürdigung (siehe Kasten). In Wolnzach gab es aber noch den hoch geachteten und geschätzten jüdischstämmigen Arzt Hermann Hamburger, der bis zum 9. November 1938 nicht glauben wollte, dass ihm höchste Gefahr drohte – trotz all den Schikanen, die er in den Jahren zuvor schon zu erdulden hatte.

Oft schon war seine Wohnungstür mit Kot beschmiert worden. An seinem Haus war die Aufschrift „Saujude“ zu lesen. Jeden Sonntag marschierten Wolnzacher Hitlerjungen – darunter einer, dem er das Leben gerettet hatte – vor seinem Haus auf und bedachten ihn mit Schmähgesängen. Auch SA-Trupps johlten antijüdische Parolen vor Hamburgers Wohnung. Doch der Medizinier ist nie gegen die Randalierer und Störenfriede vorgegangen.

1935 wurde ihm schließlich die Leitung des Wolnzacher Krankenhaus entzogen. Der Kreisleiter meldete damals der Regierung von Oberbayern, dass der Doktor „ein wesentliches Hindernis für die Durchsetzung des nationalsozialistischen Gedankenguts in Wolnzach“ sei. Und zunehmend sollte Hamburger aus seinem Beruf gedrängt werden. Ein SS-Arzt etwa beantragte 1936 beim Gauamt für Volksgesundheit „dem Juden Hamburger die Erlaubnis zur Kassenpraxis zu entziehen“.

Dabei hatte Hamburger im Ersten Weltkrieg als „Einjähriger Freiwilliger“ beim Baierischen Leibregiment gekämpft. Am ersten Tag der Mobilmachung war er eingerückt. Er wurde sogar mit dem Eisernen Kreuz ausgezeichnet, und in den Wirren des Jahres 1919 gründete er mit mehreren Wolnzachern eine Bürgerwehr gegen die „Roten“. All das sollte vergessen sein? Nein – der evangelisch getaufte Arzt fühlte sich als bayerischer Bürger und Frontkämpfer sicher. Er wollte nicht glauben, dass man ihm etwas anhaben könnte. Und so ist er noch in Wolnzach geblieben, als fast alle anderen Juden des Landkreises schon emigriert waren.

Dabei gab es immer wieder Warnungen: Der Wolnzacher Landtagsabgeordnete Schlittenbauer etwa wies Hamburger auf „günstige Grundstücke“ hin, die es in Palästina zu kaufen gebe. Die Zeiten könnten schlimmer werden, er solle besser vorsorgen. Noch wunderte sich Hamburger darüber. Doch dann kam das Jahr 1938.

Dem beliebten Wolnzacher Doktor wurde die Erlaubnis zur Führung einer Praxis entzogen. Und am Vorabend der Reichskristallnacht sollte sich alles ändern: Hamburger wurde von den Nationalsozialisten ins Konzentrationslager Dachau verschleppt. Dort wurde er schwer misshandelt, ständige Schläge haben sein Gehör für immer geschädigt.

Er wurde erst entlassen, nachdem all seine Vermögenswerte auf ein „Sonderkonto des Deutschen Reiches für Judenabgaben“ übertragen wurden. Er musste sich verpflichten, Deutschland sofort zu verlassen. Sein alter Pass wurde eingezogen, auf dem neuen war ein übergroßes „J“ zu sehen.

Nach seiner Entlassung aus dem KZ kehrte Hamburger nach Wolnzach zurück – und läutete an seinem Haus. Der Sohn öffnete die Tür und sah einen abgemagerten kahl geschorenen Mann mit blutunterlaufenen Augen. Seinen Vater erkannte er nicht: „Sie wünschen“, soll der Sohn den vermeintlich Fremden gefragt haben.

Nach der Verschleppung beschloss die Familie Hamburger auszuwandern. Das Wolnzacher Haus wurde zu einem lächerlichen Preis „arisiert“. Der Erlös musste auf das Sonderkonto überwiesen werden. Die Familie bezog dann kurz ein geerbtes Haus in Murnau. Von dort gelang in buchstäblich letzter Minute die Flucht vor der drohenden Deportation – über die Schweiz nach England. Dort blieb Hamburger bis 1956. Noch mit 70 Jahren führte er eine Praxis. 1957 kehrte er nach Murnau zurück. Dass weder die Kameraden seiner Studentenverbindung noch alte Wolnzacher Bekannte zu ihm gehalten haben, hat den einstigen Patrioten gekränkt. Verbittert zog er sich immer mehr zurück – nur noch die Arbeit im Garten bereitete ihm Freude. Im Jahr 1977 starb der Arzt im Alter von 92 Jahren. Im Familiengrab auf dem Münchener Nordfriedhof hat er seine letzte Ruhe gefunden.

Sein Sohn wurde ein berühmter Nervenarzt. Nach dem Krieg standen ehemalige Nazis aus Wolnzach, darunter wohl auch Peiniger von einst, vor seinem Haus Schlange, die um „Persilscheine“ baten. Der Sohn erinnert sich: „Menschen, die uns entwürdigt und zum Abschaum erklärt hatten, benahmen sich so würdelos, dass ich mich für sie genierte.“