Oberstimm
"Jedes Kind kann Opfer werden"

Info-Abend der Polizei und des Bistums Augsburg zum Missbrauch von Minderjährigen

28.06.2016 | Stand 02.12.2020, 19:37 Uhr

Drei Referenten des Abends: Silke Poller (Beauftragte für Frauen und Kinder beim Polizeipräsidium Oberbayern Nord), Otto Kocherscheidt (Missbrauchsbeauftragter im Bistum Augsburg) und Bernhard Scholz (Präventionsbeauftragter im Bistum Augsburg). - Foto: Schmidtner

Oberstimm (PK) Spontaner Applaus und tiefe Betroffenheit, Selbstkritik und Vorwürfe an das Bistum Augsburg: Der Informationsabend des Polizeipräsidiums Ingolstadt und der Diözese am Montagabend in Oberstimm hat emotionale Reaktionen hervorgerufen, aber auch viel zum Verständnis der Vorgehensweise in Missbrauchsfällen beigetragen.

"Pfarrer Wagner ist Anlass, nicht Thema dieses Abends", stellte Thomas Wienhardt, im Bistum Augsburg für Gemeindeentwicklung und Moderator des Abends, bereits zu Beginn klipp und klar fest. Wie mehrfach berichtet, hatte das Bistum den Pfaffenhofener Stadtpfarrer, der lange Jahre Geistlicher in Manching war, vom Amt suspendiert. Der Grund sind Missbrauchsvorwürfe aufgrund eines anonymen Schreibens gegen den Geistlichen. Wie Wienhardt betonte, werde man sich nicht zu den laufenden Ermittlungen der Staatsanwaltschaft gegen Wagner äußern. Ein Detail kam dann aber doch noch zur Sprache: Die Erklärung einer Vertreterin der Ingolstädter Kripo deutete an, dass der detaillierte anonyme Brief an das Ordinariat, der die Angelegenheit ins Rollen brachte, nichts mit Manching zu tun hat.

"Unterzeichnete Schreiben erleichtern uns natürlich die Arbeit. Aber lieber ein anonymer Brief als gar keiner", betonte Silke Poller, Beauftragte für Frauen und Kinder beim Polizeipräsidium Oberbayern Nord. Denn die Glaubwürdigkeit und Legitimität von Vorwürfen ohne Absender waren im vollgefüllten Pfarrsaal von Oberstimm immer wieder diskutiert worden. Kriminalhauptkommissarin Poller erklärte anhand von etlichen Folien, was sexueller Missbrauch von Kindern überhaupt ist. Nach ihrer Erklärung fällt darunter - vereinfacht ausgedrückt - die Benutzung eines Kindes für sexuelle Bedürfnisse eines Erwachsenen. Darunter fallen unter anderem Handlungen, die der Befriedigung des Täters dienen, Exhibitionismus, das Zeigen von Pornos, das Anstiften von Kindern zu sexuellen Handlungen an sich selbst und vieles mehr. "Auch das Hoppe-Hoppe-Reiter-Spielen kann eine Form des Missbrauchs sein", betonte Poller, wenn es nämlich der sexuellen Befriedigung des Täters dient. Selbst Berührungen am Unterarm mit entsprechender Intention können Missbrauch sein.

Die Täter sind laut Poller über alle Schichten, Alters- und Berufsgruppen verteilt - selbst Lehrer, Juristen und Polizisten machen sich strafbar. Es sind jedoch überwiegend Männer und fast ausschließlich aus dem sozialen Umfeld des Kindes. Das heißt, Opfer und Täter standen in irgendeiner Beziehung zueinander: Verwandte, Nachbarschaft oder Verein. "Ich hatte keinen einzigen Fall, wo sich Täter und Kind nicht kannten", resümierte sie über ihre Zeit als aktive Ermittlerin bei der Kripo. Charakteristisch sei, dass die Täter kein Unrechtsbewusstsein haben.

"Jedes Kind kann Opfer werden", betonte Poller. Betroffen seien vor allem vernachlässigte Kinder, aber auch brave Kinder, die für die Täter oft "bequeme" Opfer sind. Sehr eindrucksvoll schilderte Poller, wie das Vertrauen der Kinder Schritt für Schritt aufgebaut und missbraucht werde. Eindeutige Zeichen von Missbrauch sind nach ihren Worten nur schwer zu erkennen. Wichtig sei, den Kindern zuzuhören und zu beobachten. Bei einem Verdacht sollte man Beweise sichern (beispielsweise Notizen im Kalender machen, was der Polizei später nützlich sein kann), sich Rat holen, keine Vorwürfe erheben ("Warum sagst Du das erst jetzt"), Geduld zeigen und Vertrauen schaffen. Ganz wichtig: "Dem Kind Glauben schenken". Auch wenn es noch so unwahrscheinlich erscheine und selbst wenn man einem bestimmten Erwachsenen solche Übergriffe überhaupt nicht zutraue, sollte man Missbrauchsvorwürfe immer ernst nehmen. Und das Allerwichtigste: die Polizei informieren - anonym oder mit Namensangabe. "Wir gehen jedem Hinweis nach", betonte Poller: "Dazu sind wir rechtlich verpflichtet." Genauso wie die Unschuldsvermutung für Beschuldigte gelte und die Polizei deswegen in beide Richtungen (Schuld oder Unschuld) ermittle.

Einen Einblick in die Arbeit eines Missbrauchsbeauftragten vermittelte Otto Kocherscheidt. Wie er sagte, seien die Leitlinien der Deutschen Bischofskonferenz mehrmals angepasst worden. Als Missbrauchsbeauftragter führe er eine Art kirchliche Voruntersuchung nach einem bestimmten Modus durch. Damit er tätig werde, brauche er immer konkrete Hinweise, erklärte der frühere Richter am Oberlandesgericht München. "Dies können auch anonyme Mitteilungen sein", sagte er: Ein wichtiges Kriterium seien hier konkrete Details. Wenn das gegeben sei, schalte er die Staatsanwaltschaft ein.

Wie Kocherscheidt sagte, dürfe man sich dessen Arbeit aber nicht so wie in amerikanischen Filmen vorstellen. Es gelte im deutschen Rechtssystem immer die Unschuldsvermutung. An die 70 Prozent der staatsanwaltschaftlichen Ermittlungen werden nach seinen Worten eingestellt. Da man also nie wisse, ob ein Beschuldigter tatsächlich schuldig ist, werde dieser im Regelfall während der Ermittlungen "aus der Schusslinie genommen": Er wird suspendiert.

Bernhard Scholz, Präventionsbeauftragter im Bistum Augsburg, räumte ein, dass sich die Kirche bei Missbrauchsfällen schwer getan, aber dazugelernt habe. Aufklärung, Information und eine Schulung von bislang 4000 Mitarbeitern sei der Beitrag der Diözese im Sinne einer "Kultur der Achtsamkeit".

In den anschließenden Redebeiträgen waren auch selbstkritische Töne zu hören. "Was haben wir übersehen? Müssen wir uns etwas vorwerfen", fragte eine ehemalige Pfarrgemeinderätin. Heftige Kritik gab es an der Informationspolitik des Bistums. Warum denn die Suspendierung ausgerechnet einen Tag vor Fronleichnam bekannt geworden sei und der Umzug deswegen abgesagt wurde, wollten viele Zuhörer nicht verstehen. Eine mögliche Erklärung lieferte der Zucheringer Dekan Adolf Rossipal: "Hätten wir zuerst Fronleichnam gefeiert und dann erst die Suspendierung bekannt gegeben, hätte es geheißen: Da feiern's Fronleichnam, sagen kein Wort und tun so, als ob nichts wäre."