Neustadt
"Krebs hast du nicht alleine"

Die Explosion im Atomreaktor von Tschernobyl hat das Leben von Bruno für immer verändert

25.05.2016 | Stand 02.12.2020, 19:46 Uhr

Papas Stolz: Melissa, seine kleine Tochter, gab Bruno den Lebensmut zurück, den ihm der Knochenkrebs und die Chemotherapie genommen hatten. - Foto: Scholtz

Neustadt (DK) Wenn Bruno zupacken muss, dann ist das für den 1,90 Meter großen, kräftigen jungen Mann kein Problem. Auch die Arbeit im Büro scheint ihn nicht besonders zu belasten. Dabei lebt der Vater von vier Kindern mit ständigen Schmerzen. Bruno leidet an Knochenkrebs, ausgelöst durch die Explosion eines der Atomreaktoren in Tschernobyl am 26. April 1986. Das Unglück hat sich vor wenigen Wochen zum 30. Mal gejährt.

Die Familie des damals Dreijährigen lebte im rumänischen Hermannstadt. Sie gehört zu den Siebenbürger Sachsen, die sich dort bereits im 12. Jahrhundert niedergelassen haben. Die Kulturhauptstadt Europas von 2007 liegt 748 Kilometer Luftlinie von Tschernobyl entfernt. Kurz nach dem Unglück hatte der Wind auf Ost gedreht und schickte radioaktive Giftwolken, dazu kam Dauerregen, der bis zum 1. Mai anhielt.

Rumäniens damaliger Staats- und Parteichef Nicolae Ceausescu hielt die Nachricht von der Explosion zurück; als das nicht mehr möglich war, wurden Messdaten verharmlost. Wie schlimm es tatsächlich stand, das erfuhr Brunos Familie erst Monate später, als Freunde aus Deutschland anfragten, ob sie Jodtabletten schicken sollten.

Bruno lebte zu jener Zeit vorwiegend bei der Oma auf dem Land: badete im verseuchten Bach, trank und wusch sich mit belastetem Wasser aus dem hauseigenen Brunnen, aß das Gemüse, das mit dem radioaktiven Regenwasser gegossen worden war. "Wir hatten ja alle keine Ahnung." Dann wurde ein Teil des Viehs vom großelterlichen Bauernhof von der Regierung zu Forschungszwecken konfisziert und abtransportiert. "Das Essen bei uns war damals ziemlich knapp", erinnert sich Bruno. Dass nichts mehr so war wie bisher, merkte der Bub auch, als Kälber und Ferkel mit Missbildungen geboren wurden. Mensch und Tier ernährten sich damals vorwiegend von roten Bohnen, von denen es hieß, sie seien nur gering belastet.

Dann zog die Familie zu Verwandten nach Baden-Württemberg, wo Bruno eine Ausbildung zum Restaurantfachmann absolvierte. Er stand kurz vor dem Abschluss, da machten sich erste Anzeichen der Krankheit bemerkbar, die damals auch die Ärzte nicht diagnostizieren konnten. Sie dachten an Wachstumsschmerzen oder Mikrofrakturen, die eine Dauerentzündung und starke Schwellungen der Füße verursachten, an Rheuma oder kranke Zähne, die die Gelenke belasten könnten. Erst nach vielen Monaten bestanden keine Zweifel mehr: Knochenkrebs lautete die niederschmetternde Diagnose. "Ich war verzweifelt, habe oft daran gedacht, mich umzubringen, weil ich keine Zukunft mehr sah", erzählt Bruno. Vor allem während der ersten Chemotherapie. Sie wurde für den jungen Mann zu einer einzigen Qual mit heftigem Husten, Schüttelfrost und Weinkrämpfen: "Und dann diese andauernden schier unerträglichen Schmerzen. Da wirst du fast wahnsinnig."

Seine Ehe war zu diesem Zeitpunkt schon am Ende. Die kleine Tochter wurde ihm zugesprochen und mit einem Schlag war Bruno klar: "Ich muss leben, das bin ich meinem Kind schuldig." Als er seine Kur antreten konnte, zu der er die Kleine mitnehmen durfte, begann für den jungen Papa "eine wunderschöne Zeit". Der damals 28-Jährige lernte, mit der Krankheit zu leben, begann sich körperlich und psychisch zu stabilisieren. Danach begegnete er seiner heutigen Frau, mittlerweile haben die beiden vier Kinder. Bruno konnte auf Bürokaufmann umschulen und hat längst einen festen Job: "Mein Leben hat wieder einen Sinn." Diese Einstellung lässt den Familienvater die permanenten Schmerzen ertragen, die er nur mit starken Tabletten mindern kann.

Im vergangenen Sommer meldete sich der Krebs zurück. Erneut musste Bruno zur Chemo. Er hat sie einigermaßen gut vertragen, konnte daneben sogar arbeiten: "Darauf habe ich bestanden, denn ich war abgelenkt von den Schmerzen und es blieb keine Zeit zum Grübeln."

Weil sein Immunsystem stets heruntergefahren ist, damit die Krebszellen keine Chance haben, weiter zu wuchern, muss sich Bruno vor Infekten schützen. Schon wenn seine Kinder einen harmlosen Schnupfen haben, bleiben Küsschen und Umarmungen tabu: "Meine Jüngsten verstehen das noch nicht. Ich glaube, es stimmt sie sehr traurig, wenn der Papa auf Distanz gehen muss."

Sein Arbeitgeber hat ihm erlaubt, wenn es möglich ist, von zu Hause aus zu arbeiten, "da kann ich mich zwischendurch auch mal hinlegen". Solche Erholungsphasen braucht Bruno, weil er nie mehr als ein bis zwei Stunden am Stück durchschlafen kann. Doch das gehört zu seinem Alltag wie die wöchentlichen Arztbesuche, die regelmäßige Einnahme von Medikamenten und die antiseptische Sauberkeit daheim. "Krebs hast du nicht alleine", weiß Bruno längst. "Die Familie leidet mit und alle fühlen sich ohnmächtig, weil sie dir nicht helfen können."