Oberhausen
Jeder Meter ein Erfolg

Jürgen Schenke wollte schwimmend den Ärmelkanal durchqueren – wäre da nicht ein Kurswechsel gewesen

19.08.2015 | Stand 02.12.2020, 20:54 Uhr

Diesen Schriftzug wird er nie vergessen: Suva, der Name des Begleitbootes. Die Verpflegung stellte seine Frau Silke über eine Wäscheleine sicher, an der sie die Trinkflaschen ins Wasser abseilte.

Oberhausen (DK) Vier Jahre lang hat er sich vorbereitet, ist Kilometer für Kilometer geschwommen für sein großes Ziel: den Ärmelkanal zu durchqueren. Anfang Juli hat sich Jürgen Schenke nun seinen Traum erfüllt.

Es ist dunkel. Der Himmel ist kaum bewölkt, nur der Mond ist zu sehen und das Boot mit einem fahlen Licht vor ihm. Ansonsten ist da nur Wasser. Der Ärmelkanal, der Teil des Atlantiks zwischen Frankreich und England. 34 Kilometer breit. Jürgen Schenke ist schon vier Stunden im 17 Grad kalten Wasser, hat sich in Dover in die Fluten gestürzt – mit Kurs auf Calais. Endlich ist er gekommen, der Tag, auf den er so lange gewartet hat, das Ziel, das er so lange vor Augen hatte. All die Trainingseinheiten, all die Jahre der Vorbereitung: Sie haben ihn hierher geführt. In die Dunkelheit der Nacht, in die Wellen des Atlantiks.

Es ist ein Montag Anfang Juli, als er mit seiner Frau Silke von Neuburg aus mit dem Auto aufbricht in Richtung Calais, mit der Fähre verlassen sie das europäische Festland und setzen nach Großbritannien über. „Ohne meine Frau hätte das Ganze nicht stattfinden können“, erzählt Jürgen Schenke. „Sie hat mir immer den Rücken freigehalten, hat sich um vieles Organisatorische gekümmert.“ Anfangs war auch sie skeptisch, wie so viele. Den Ärmelkanal durchschwimmen? Ist das keine Schnapsidee? Doch schnell bemerkt sie, dass es ihrem Mann ernst ist. Spätestens als die beiden dann am Dienstag Dover erreichen, ist klar: Er will das durchziehen. Sie beziehen eine Unterkunft, in der sich die Sportler nur so tummeln, tauschen sich aus, erzählen sich gegenseitig von ihren Strapazen im Vorfeld, motivieren sich. Nach dem Treffen mit dem Kapitän seines gemieteten Boots, steht der Termin fest: am nächsten Tag. Das Zeitfenster für die Durchquerung war eine Woche lang, für diesen Zeitraum die Unterkunft gebucht. Denn der Trip ist auch von äußeren Faktoren abhängig: Wetter, Strömung, Schiffsverkehr. Dass es sofort losgehen soll, gefällt dem 50-jährigen Oberhausener. „Ich habe mich wie ein Rennpferd gefühlt, das mit den Hufen scharrt und aus dem Stall gelassen werden will.“ Den Tag verbringt das Ehepaar damit, die letzten Vorbereitungen zu treffen: Die Trinkflaschen werden befüllt, das Essen abgepackt. Das Wasser ist mit einem Kohlenhydratpulver versetzt, außerdem kommen Sportler-Gels mit an Bord, das sind spezielle Energielieferanten.

Um 17 Uhr steht er dann nur mit seiner Badehose und ohne Neoprenanzug bekleidet am Strand. Endlich. Die 17 Grad machen ihm nichts aus. „Das war ich gewohnt“, sagt er. An Bord sind neben dem Kapitän noch zwei Co-Kapitäne, eine offizielle Vertreterin, die darauf achtet, dass alles nach Vorschrift abläuft, und seine Frau Silke. Die Wellen im Ärmelkanal zwischen 70 Zentimetern und 1,5 Metern hoch. „Darauf musste ich mich einfach einlassen, trainieren kann man das nicht.“ Der Auftakt seines großen Traums ist mühselig. Oft dreht sich Schenke um, schaut, wie weit er schon geschwommen ist. Doch die englische Küste mit ihren Kreidefelsen wird nicht kleiner. „Da dachte ich schon einen Moment ,Was tust du da eigentlich’“. Doch irgendwann findet er seinen Rhythmus, legt Meter um Meter zurück, Kilometer um Kilometer. Stunden später geht die Sonne unter. „Das war richtig genial“, erinnert sich Schenke. „Ich konnte das total genießen.“

Alle 30 Minuten nimmt er wie vereinbart Trinken und Essen zu sich, seine Frau seilt es an einer Wäscheleine ins Wasser ab. In dieser Zeit kann er sich kurz sammeln, konzentrieren. Und plötzlich sieht er das Ziel vor sich. Um 2 Uhr morgens taucht die französische Küste in seinem Blickfeld auf. „Das hat einen richtigen Motivationsschub gegeben“, erzählt er. Wenn alles glatt läuft, weiß er, ist er in drei Stunden in Calais. Aber es läuft nicht alles glatt.

Irgendwann wechselt sein Begleitboot die Richtung, Schenke merkt das im Wasser. „Ich weiß bis heute nicht, warum“, sagt er. „Das kann alles sein, ein anderes Schiff oder die Strömung.“ Die Kursänderung bringt ihn aus dem Konzept, er findet seinen Rhythmus nicht mehr, hadert. „Dann hat mir ein Krampf zu schaffen gemacht und die Schulter hat gezwickt“, erinnert sich der 50-Jährige. „Wenn ich gewusst hätte, warum wir anders fahren, wäre das nicht so schlimm gewesen. Aber ich habe keine Info bekommen.“ Die Motivation fiel rapide ab, da half auch nicht mehr sein Lied, das er sich in den vielen Kilometern zuvor im Kopf selbst vorgesungen hat: „Tanz als ob’s kein Morgen gäb’“, von Phillipp Poisel. Dann die Info: noch sieben Stunden. „Da war klar: Jetzt ist Schluss.“ Intuitiv entscheidet Schenke, dass er hier und jetzt, nach 14 Stunden im Wasser, seine Mission abbricht. „Von der Kraft und der Ausdauer hätte ich es geschafft, aber der Kopf war nicht mehr da.“ Die Besatzung lässt eine Leiter ins Wasser, Jürgen Schenke steigt aufs Boot. Das war’s.

In den zwei Stunden zurück nach Dover fasst er den Entschluss, einen neuen Anlauf zu wagen. „Vielleicht 2017“, sagt er. Die nächsten Tage verbringt er mit seiner Frau in England, macht Urlaub. Die Reaktionen aus seinem Freundes- und Bekanntenkreis lassen nicht lange auf sich warten. Alle gratulieren ihm, dass er es so weit geschafft hat. „Ich habe das bis heute noch nicht richtig realisiert.“

Für ihn bleibt bis zum zweiten Versuch nicht nur die Erinnerung an ein tolles Erlebnis, sondern auch die Erkenntnis: „Wenn man sich auf etwas einlässt und es sich in den Kopf setzt, dann schafft man das auch. Der Weg ist das Ziel, und jeder Meter im Ärmelkanal war ein Riesenerfolg.“