Neuburg
Wo Grenzen aufgehoben werden

Marc Schnittger zeigt in "Der Garten der Lüste" ein skurril überzeichnetes Panoptikum an Lebenskünstlern

30.05.2016 | Stand 02.12.2020, 19:45 Uhr

Skurril lustvoll folgte Marc Schnittger mit seinen charakterstarken Puppen dem "Lockruf des Archaischen", wie sein Theater nicht zu viel versprach. - Foto: Heumann

Neuburg (DK) Zum Abschluss der 1. Neuburger Figurentheatertage hat der preisgekrönte Kieler Puppenspieler Marc Schnittger sein Werk "Der Garten der Lüste" gezeigt - mit einer unglaublichen Bühnenpräsenz.

Was mag wohl einst in dem Kopf des genialen Malers Hieronymus Bosch vorgegangen sein, der an der Schwelle zur Neuzeit und als wollte er das ganze Mittelalter bannen, lustvollste Apokalypse und apokryphe Lust zu den grandiosesten (Un)sittengemälden verband? Sein phantastisch unheimlicher "Garten der Lüste" hat den Figuren+Theater+Macher Marc Schnittger zu seinem "Theaterprojekt über den Lockruf des Archaischen" angeregt.

Zu Recht wohl war dieses Ein-Mann- und Viel-Personen-Stück ans Ende von Neuburgs ersten Figurentheatertagen gestellt. Es war auf jeden Fall das erwachsenste Stück, und die Rankingspielchen, wer nun der Schönste, Beste im Lande sei, überlässt man überdies besser Medien, die solches dringender nötig haben. Zugleich markiert Marc Schnittgers Arbeit in gewisser Weise einen Endpunkt fürs Figurentheater, wenn sich der Mensch nicht mehr länger hinter seinen Geschöpfen verstecken mag. Oder sollte man es besser den Anbeginn von etwas qualitativ ganz anderem nennen, wo die Puppe endgültig zum gleichrangigen Partner des Menschen wird? In der Person von Marc Schnittger sind sowieso all diese Grenzen von Puppenmacher Puppenspieler, Geschichtenerzähler und Schauspieler aufgehoben; und es spricht für die Klugheit des Theatermannes Schnittger, dass er sich, sein Stück wie sein Spiel, den gleichviel objektivierenden wie schärfenden Diensten eines Zweiten, in dem Fall der Regisseurin Almut Fischer, anvertraut. Einen ganz wichtigen Part übernimmt in diesem bis ins Kleinste fein austarierten Theater die Licht- und Tontechnik. Im Gegenlicht sich brechende, gespenstische Nebelschwaden durchwabern als Szene die in verschiedene Richtungen sich verlierende Urwaldlichtung. Menschen laufen da ständig Gefahr, sich zu verirren - und finden in den glücklichsten Momenten zu sich selbst, in diesem Vexierspiel der Lüste und Ängste. Die Farben eines Hieronymus Bosch bleiben fürs Theater natürlich unerreichbar, Schnittger interessiert auch mehr die dunkle Seite, das in jedermanns eigener Biographie wie ebenso in der Menschheitsgeschichte verschütt Gegangene, das latent und immer virulenter zurück an die Oberfläche wenigstens in der purgativen Kraft des Spieles drängt und dringt.

Das Personal für all diese interaktiven Versatzstücke über hundert Minuten scheint Carlos Sauras den gleichen Titel tragendem Film entnommen: Es begegnen sich körperliche Invaliden und seelische Krüppel, und jeder von diesen verbindet sein ganz eigenes Wunschbild von einem wie an einen Garten der Lüste. Meint der eine, ausgerechnet hier die Welt und sein Seelenheil gleich mitretten zu können, hofft der andere auf den ultimativen perversen Kick, mit der Zeit tät's auch schon fließend Wasser bloß. Für den Krieger heißt Dschungel Überlebenskampf, dem lyrisch veranlagten Esoteriker ist er Idyll schlechthin. Eine glänzende Geschäftsidee ist er allemal. Und natürlich platzen die Träume zuhauf. Nicht alle, da stimmt das Theater versöhnlich: Das verwöhnte Gör und der Ökofreak versuchen ihr Glück im totalen Rückzug ins Private. Wo's dann statt des Gartens der Lüste auch ein kleines Gärtchen schon täte.

Für dieses Panoptikum an Lebenskünstlern schafft Schnittger ein skurril überzeichnetes, in seiner rudimentären Verknappung nur desto protzköpfigeres, satt unwirtliches Figurenarsenal und erweckt dieses trefflichst zur ausgesprochen typgerechten Bühnenpräsenz.