Neuburg
"In der DDR war es nicht mehr auszuhalten"

01.10.2010 | Stand 03.12.2020, 3:37 Uhr

 

Neuburg (r) "Guten Morgen Deutschland" titelten die Zeitungen in Sachsen und Thüringen zum 3. Oktober 1990. Stadt- und Kreispolitiker aus dem Landkreis waren vor 20 Jahren dabei, "saugten" die Momente deutsch-deutscher Geschichte regelrecht auf.

Die Wende und den Wiederaufbau mitzuerleben, "das waren mit die bewegendsten Momente meiner Amtszeit", bekennt Altlandrat Richard Keßler. Der gelernte Historiker war auch im Frühjahr 1990 mit dem Kreistag vor Ort, als in den Kommunalwahlen der noch existierenden DDR die zur PDS umbenannte Partei SED aus den Gremien abgewählt wurde.
 

Die Neuburg-Schrobenhausener erlebten die Nacht zur deutschen Einheit vom 2. auf den 3. Oktober in Thüringen mit und widmeten sich danach insbesondere der Region Pößneck und Saale-Orla. Das Landratsamt half beim Aufbau neuer Verwaltungen, private und Vereinskontakte haben bis heute Bestand. Der Euphorie folgte Ernüchterung, an der "inneren Einheit" muss weiter gearbeitet werden.

Tausende DDR-Bürger nutzten die Aufbruchstimmung im Herbst 1989, um sich über Ungarn oder Tschechien abzusetzen. Als am 4. November 800 Übersiedler mit Trabants, Wartburgs und Ladas in den beiden Bundeswehrkasernen eintrafen, hatte auch die Stadt Neuburg ein Stück deutsch-deutscher Geschichte erwischt.

Zu den Flüchtlingen, die damals ihr Schicksal entschlossen in die Hand genommen hatten, gehörte auch Erika Müller. Die 47-Jährige hat sich in ihrer neuen Heimat gegen Vorurteile durchgekämpft und lebt heute im eigenen Haus im Stadtteil Heinrichsheim. Mit Ehemann und der sechsjährigen Tochter hatte sie am 8. November 1989 die Heimat Güstrow an der Ostsee verlassen. Die junge Familie nutzte einen Moment, an dem die tschechisch-bayerische Grenze offen war. Dass die Mauer noch in derselben Nacht fiel, war für sie unvorstellbar: "Wir dachten, jetzt geht der Vorhang endgültig runter".

"Zu lasch in der FDJ"

"In der DDR war es nicht mehr auszuhalten", sagt Erika Müller damals wie heute. Keine Reisen, keine Perspektiven, alles kontrollierte der Staat. Schon als Schülerin wurde sie ständig benachteiligt, zum Abitur wollte man sie nicht zulassen. Referate über Stalinismus und Marxismus gehörten zur Schikane. Die Lehrer beanstandeten ihre lasche Mitwirkung in der FDJ-Gruppe. "Sie hätte sich intensiver an der Aneignung gesellschaftspolitischen Wissens und eines fundierten parteilichen Standpunktes beteiligen müssen", schrieb der Klassenleiter ins Zeugnis der 17-Jährigen. Den Kindern von Parteisekretären und LPG-Vorsitzenden passierte das nicht.

Durch Intervention der Mutter konnte sie dann doch ihre Prüfung machen, studierte Deutsch und Russisch an der Hochschule. Sie durfte nicht als Englischlehrerin nach Rostock, die Behörden ließen sie zu keiner Zeit aus Güstrow heraus.

Die Eltern führten einen Karrussellbetrieb. "Wir waren privat", erzählt Mutter Anneliese, "das hat der SED überhaupt nicht gepasst". Das galt auch für ihr Westfernsehen und ihre politische Einstellung. Sie waren dabei, als auch die Güstrower im Herbst mit Kerzen auf die Straße gingen. Die Kameras richteten sich auf Leipzig, "aber damals haben überall in der DDR die Bürger protestiert".

Die Eltern zogen 1993 zur Tochter nach Neuburg. Es sei auch im Westen alles andere als leicht gewesen, sagt die Mutter, "aber wir haben es schon richtig gemacht". Erika Müller arbeitet heute als Deutsch- und Soziallehrerin und würde gerne wissen, wer sie damals in Mecklenburg-Vorpommern ständig angeschwärzt hat. Die Gauck-Behörde teilte aber mit, dass es über sie keine Akte gebe.

Von Leipzig ins Moos

Den Wechsel in den Westen nicht bereut hat auch Karen Johannsen. Die heute 43-jährige Frau hatte im März 1990 ihre Leipziger Heimat verlassen. Sie hatte bittere Erfahrungen im Stasistaat gemacht, die Mutter war sogar ausgewiesen worden. Die Deutschlehrerin lernte um, studierte Volkswirtschaft und fand Anstellung bei der Stadt München. Seit acht Jahren lebt sie mit Familie im Donaumoos, ist verbeamtet im Landratsamt Neuburg und zählt zu den Stützen des neuen Landrats Roland Weigert.

Ein- bis zweimal jährlich geht‘s zurück in die alte Heimat nach Sachsen – zum Familientreffen. Im Donaumoos fühlt sich die Leipzigerin wohl. Sogar den dichten Nebel nimmt sie als "romantisch" hin.