Frau
"Luther würde heute alle Kanäle nutzen"

Pfarrerin Anne Stempel-de Fallois hält das Wirken des Reformators für wertvoll, verschweigt aber dessen antisemitische Seite nicht

30.01.2017 | Stand 02.12.2020, 18:43 Uhr

Lutherfan und Seelsorgerin: Die evangelische Pfarrerin Anne Stempel-de Fallois sieht in dem großen Reformator vor allem einen kritischen Zeitgenossen, der auch heute noch wichtig für eine moderne Kirche ist. - Foto: Janda

Frau Stempel-de Fallois, die evangelische Kirche feiert heuer das Lutherjahr. Hatte der Reformator damals überhaupt mit seiner Kritik an der Kirche recht

Anne Stempel-de Fallois: Er hatte völlig recht. Ich finde es sehr gut, die Reformation als ökumenisches Ereignis zu sehen. Es gibt innerhalb der katholischen Kirche heute noch von unten her eine starke Bewegung, um manche verkrusteten Strukturen zu verändern. Dazu gehört auch vieles, was die evangelische Kirche verändert hat.

 

Also eine Reformation im Sinne einer ständigen Kirchenerneuerung?

Stempel-de Fallois: Ja, genau. Erneuerung, aber auch Moderne. Manche Katholiken und auch Kirchenvertreter sagen, dass die katholische Kirche eigentlich damals hätte mitziehen sollen. Dann hätte es die Spaltung der Kirche niemals gegeben. Oder sie wäre zumindest nicht derart radikal ausgefallen. Denn, das darf man heute nicht vergessen, die Reformation ist ja nicht nur toll gewesen.

 

Was sagen uns Luthers 95 Thesen heute noch?

Stempel-de Fallois: Ich finde sie sehr spannend, weil ich sie mit Kindern und Jugendlichen in der Schule oft behandle. Denn auch Kinder finden die Thesen wichtig. Damit hat Luther in die Öffentlichkeit gebracht, dass man zu Gott beten und Sünden bekennen darf. Man braucht für die Vergebung keinen offiziellen Kirchenvertreter, weil das ganze Leben Buße ist. Das steht schon in der ersten These. In der 21. heißt es außerdem, dass Ablassprediger im Unrecht sind. Und auch die allerletzte ist extrem wichtig, weil es darin um den Frieden geht. ,Verleih uns Frieden gnädiglich, wie Luther später dichtete.

 

Was ist heute noch wertvoll am großen Reformator und an seinem Wirken?

Stempel-de Fallois: Auf jeden Fall - und besonders für mich als evangelische Pfarrerin - das Aufrechte. Dass man zu seiner Meinung steht. ,Hier stehe ich und kann nicht anders , wie Luther gesagt haben soll. Aber nicht etwa, weil man verbohrt ist oder sich auf eine Tradition beruft, sondern weil man ein frommer Mensch ist. Eines der großen Verdienste Luthers war seine Bibelübersetzung, mit der er den Menschen die Möglichkeit gegeben hat, selbst zu lesen, sich eine eigene Meinung zu bilden und miteinander zu diskutieren.

 

Die Übersetzung ist also wichtiger als seine Thesen und die Reformation?

Stempel-de Fallois: Ja, das stimmt schon. Wobei er die Thesen vorher verfasst hat, die Bibelübersetzung kam erst im Jahr 1522. Aber natürlich ist diese Leistung viel wichtiger, weil sie ermöglicht, Kinder und Jugendliche an die Bibel heranzuführen.

 

Was für ein Mensch war Martin Luther eigentlich?

Stempel-de Fallois: Er war ein Mensch mit Leib und Seele, das finde ich extrem wichtig. Er war nicht von Dogmatismus oder starren Vorstellungen geprägt, sondern lebte seinen Glauben mit offenem Herzen. Er brach mit seinem Klostergelübde, war dem Leben, der Musik und auch dem Genuss absolut zugewandt. Ein bisschen Ähnlichkeit hat er in diesen Dingen mit dem Neuburger Pfalzgrafen Ottheinrich - nicht nur optisch. Ottheinrich wollte Luther 1537 in Wittenberg sogar treffen, der war aber gerade nicht da. Trotzdem ließ Ottheinrich damals Karpfen, Bier und Wein von dort mitbringen. So hatte er sicher einige theologische Ideen im Gepäck. Aber eben auch das.

 

Mal angenommen, Martin Luther würde heute leben: Wäre er eher ein Wutbürger oder ein Mutbürger?

Stempel-de Fallois: Wahrscheinlich beides. Er wäre auf jeden Fall ein sehr kritischer Geist.

 

Und welches Amt hätte er dann am ehesten inne: das eines evangelischen Priesters, eines Stadtrats oder gar noch mehr?

Stempel-de Fallois: Cool wäre es, wenn er eine Art evangelischer Papst wäre. Ich weiß aber nicht, ob er sich ganz oben hingestellt hätte. Außerdem war ihm das Wort Papst verhasst. Luther wäre wohl auch weniger in Richtung Politik gegangen, sondern hätte eher als Mahner im Hintergrund gewirkt. Hauptsache in einer leitenden Position, durch die er die Kirche immer wieder neu ausrichten kann - aber nicht als Karrierist, sondern für eine ständige Erneuerung.

 

Wenn Sie Martin Luther heute treffen würden, was würden Sie ihm dann am liebsten sagen?

Stempel-de Fallois: Ich würde ihm danken, dass er so viel Mut bewiesen hat. Das Feuer des Glaubens war so stark in ihm, dass er mit sehr wenig Schlaf ausgekommen ist. Dadurch konnte er uns ein enormes Pensum an Schriftwerk hinterlassen. Das finde ich toll. Und dass er so viel aufgebrochen hat. Und sich immer eingemischt hat . . .

 

Damals benutzte Martin Luther der Überlieferung nach Hammer und Nagel, um seine 95 Thesen zu verbreiten. Wie würde er heute vorgehen?

Stempel-de Fallois: Ich denke, er würde alle Kanäle nutzen. Er war damals ja der Medienmensch schlechthin, wäre heutzutage also wohl sehr internetaffin. Gleichzeitig hatte Luther genügend Frauen und Männer an seiner Seite, die ähnliche Gedanken hatten und die Reformation in ganz Europa verbreitet haben.

 

Doch es war nicht alles prima, was Luther von sich gab. Heute ist er wegen seiner antisemitischen Haltung umstritten.

Stempel-de Fallois: Im Freundeskreis höre ich oft die Frage, wie man mit Luther so positiv umgehen kann. Doch dazu muss man sagen: Das ist so passiert, es wird nichts geleugnet. Luther ist nur ein Heiliger in dem Sinn, wie er sich um den rechten Glauben bemüht hat. Das heißt aber nicht, dass er ein fehlerloser Mensch war. Schon die erste These sagt, dass der Mensch jeden Tag Fehler begeht. Was ihn damals allerdings zu solch einer Haltung getrieben hat, weiß ich nicht.

 

Wird diese Seite von ihm im Jubiläumsjahr ein Thema?

Stempel-de Fallois: Nein, denn Luther hat so viele Facetten. Natürlich könnte man das thematisieren, aber eher im Dialog. Wäre hier in Neuburg eine große jüdische Gemeinde, dann würden wir das sicherlich machen. Unsere Schwerpunkte sind eher die Musik und Aktionen für die Jugend.

 

Luthers Wirken hat schließlich zur Kirchenspaltung geführt. Wie ist heute eine Annäherung der Konfessionen möglich?

Stempel-de Fallois: Beide Teile gehören natürlich zusammen. Allein unsere Gesellschaft verlangt nach etwas Anderem als nach Spaltung. Und wir nähern uns bereits weiter an - durch die Begegnung von Menschen. Das machen wir auch in Neuburg so, zum Beispiel beim gemeinsamen Gebet für den Frieden auf dem Volksfestplatz. Das ist alles andere als trennend.

Das Gespräch führte Stefan Janda.
 

Zur Person


Anne Stempel-de Fallois (50) ist seit dem Jahr 1999 Pfarrerin der evangelisch-lutherischen Kirchengemeinde Apostelkirche in Neuburg. Rund 3000 Protestanten leben im Zuständigkeitsbereich, der überwiegend das Ostendviertel und Heinrichsheim, aber auch einige weitere Ortsteile umfasst. Die gebürtige Bochumerin und Tochter eines Theologieprofessors teilt sich die Seelsorge mit ihrem Mann Johannes de Fallois, der in Franken geboren und aufgewachsen ist. Das Paar hat gemeinsam drei Kinder. Darüber hinaus unterrichtet Stempel-de Fallois an der Maria-Ward- und an der Paul-Winter-Realschule in Neuburg.