Claudia
"Ich habe trotz allem Glück gehabt"

22.03.2017 | Stand 02.12.2020, 18:27 Uhr

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Claudia Siegel leidet seitdem sie 16 Jahre alt ist an rheumatoider Arthritis, im Volksmund Gelenkrheumatismus genannt. Sie hat eine lange Krankheitsgeschichte hinter sich und musste bereits 17 Operationen über sich ergehen lassen. Trotzdem lässt sich die lebensfrohe 63-Jährige nicht unterkriegen und engagiert sich als Vorsitzende der Rheuma-Liga in Ingolstadt, um anderen Betroffenen zur Seite zu stehen.

Bevor die Krankheit ausbrach, war Claudia Siegel 1,80 Meter groß. Heute, mit 63, misst sie noch 1,62 Meter. Claudia Siegel leidet an rheumatoider Arthritis, im Volksmund Gelenkrheumatismus genannt. "Das ist eine Autoimmunerkrankung, die ohne Behandlung zur Zerstörung der Gelenke führt. Der Körper macht sie selbst kaputt, indem er sie entzündet", erklärt Siegel, die eine große Freundlichkeit ausstrahlt. Mit 16 hat die ehemalige Münchnerin über Nacht heftige Schmerzen bekommen. Sie hatte das große Glück, dass ihr Hausarzt die Anzeichen richtig gedeutet und sie gleich in die Rheuma-Ambulanz der Universität München geschickt hat. "Bei zwei Dritteln der Betroffenen wird die Krankheit erst einmal nicht erkannt. Viele haben eine Odyssee hinter sich, bis Rheuma diagnostiziert wird", erzählt Siegel.

Ihr Lebenslauf nach der Diagnose ist abenteuerlich: Nach heftigem Krankheitsverlauf, einem halben Jahr im Krankenhaus "und einer Versetzung ohne richtiges Zeugnis mit tollen Lehrern", wie sie lächelnd sagt, geht sie weiter zur Schule und macht 1973 das Abitur mit Sondergenehmigung. Sie bekommt mehr Zeit zum Schreiben wegen ihrer nur schwer beweglichen Hände. Anschließend studiert sie mithilfe von Freunden und ihrer Familie Volkswirtschaftslehre in München. "Ich konnte weder schnell laufen noch schnell schreiben und auch keine Bücher schleppen. Aber ich hab's geschafft. Und danach drei Jahre bei einem Steuerberater im Ruhrgebiet gearbeitet."

Ihren Mann, den sie während der Schulzeit in München kennengelernt hat, heiratet sie nach dessen Medizinstudium 1983. Als beide zusammen nach München zurückkehren, ist Siegel schwanger. "Während der Schwangerschaft ging es mir so gut wie nie. Aber als unsere Tochter geboren war, kam ein großer Absturz, ich konnte mich kaum bewegen und meine Eltern waren oft da, um uns zu versorgen."

Aber Siegel beißt sich durch. Nachdem die Krankheit ihre Steuerberaterprüfung verhindert hat, macht sie sich mit einem Buchführungsbüro selbstständig, das sie bis heute betreibt. "Das war und ist für mich einfacher als ein Job im Angestelltenverhältnis. Man kann mit der Krankheit schlecht planen, man weiß ja nie, wie es einem am nächsten Morgen geht, ob man überhaupt vor Schmerzen aus dem Bett kommt." Siegel lässt sich die Möbel zu Hause so hinstellen, dass ihre kleine Tochter ihr zum Anziehen auf halber Höhe entgegenkommen kann, und stattet den Haushalt so aus, dass sie möglichst gut zurechtkommt.

1998 zieht die Familie nach Ingolstadt, das Buchführungsbüro zieht mit. Kurz darauf bekommt Claudia Siegel Kontakt zur Ingolstädter Gruppe der Rheuma-Liga, die bayernweit mit rund 100 Selbsthilfegemeinschaften vertreten ist. Sie wird erst Schriftführerin und 2008 Vorsitzende - "in einem großartigen Team", wie sie sagt. Dann hält sie fest: "Man kann mit der Krankheit gut klarkommen, aber am Anfang ist es schwer." Deshalb wolle die Rheuma-Liga informieren, da sein, ein Forum und Kontakte zu Gleichgesinnten bieten. "In meinem Fall ist es gut gelaufen, weil ich die Krankheit schon vor der Phase der Berufswahl hatte und so meinen Beruf passend aussuchen konnte. Sonst ist es ein noch viel extremerer Einschnitt, wenn man das Gefühl hat, dass der Körper einem alles diktiert und man sich nur noch ausgeliefert fühlt. Ich habe trotz allem Glück gehabt!", stellt die 63-Jährige fest - und dem Zuhörer stockt einen Augenblick der Atem, wenn er das hört. 17 OPs hatte Siegel bis heute, drei künstliche Gelenke wurden ihr eingesetzt. Sie trägt Spezialschuhe, ist mit einem Rollator unterwegs, kann ihre Hände nur eingeschränkt bewegen. So viel Kampf, Schmerzen und Rückschläge, und dann dieser Satz: "Ich habe trotz allem Glück gehabt!"

"Die Behandlungsmethoden haben sich im Vergleich zu früher sehr verändert. Während man die Rheumakranken früher eher ruhiggestellt und nur vorsichtig Medikamente gegeben hat, setzt man heute auf viel Bewegung und startet direkt eine starke medikamentöse Therapie", erklärt die 63-jährige Ingolstädterin und fügt eindringlich hinzu: "Meine große Botschaft ist: gleich zum Facharzt, das heißt zum Rheumatologen!" Dann könne man Schlimmeres verhindern, ein rascher Beginn der Behandlung möglichst im Frühstadium sei superwichtig. Leider, so Siegel, gebe es viel zu wenige Kassensitze für Rheumatologie in Bayern. Die sogenannten "drei B's" der Rheuma-Liga, "Beraten, Bewegen, Begegnen", liegen ihr sehr am Herzen. "Klar muss man immer den inneren Schweinehund überwinden, aber ohne Bewegung und spezielle Gymnastik säße ich sicher schon im Rollstuhl. Es tut auch so gut, sich mit anderen auszutauschen. Überhaupt lebt man nicht für die Krankheit, sondern mit ihr. Und ich habe einen wunderbaren Partner, der mich sehr unterstützt."

Siegel ist früher gerne gesegelt und geschwommen. "Das geht beides nicht mehr", sagt sie mit einem kleinen Seufzen, um dann aber gleich fröhlich fortzufahren: "Ich schaue sehr gerne Sportsendungen im Fernsehen und liebe Bücher. Zu meinem 60. Geburtstag habe ich mir zu Hause ein Zimmer als Bibliothek eingerichtet, das war ein Lebenstraum von mir. Außerdem koche ich gerne mit meinem Mann zusammen. Wir haben oft Gäste, die sich inzwischen alle perfekt in meinem Haushalt auskennen - und eher mich bedienen als ich sie!"