stadtgeflüster
Jeder nur ein Kreuz

26.05.2019 | Stand 02.12.2020, 13:53 Uhr

(tsk) Wahlsonntag.

Es ist ein schönes Gefühl, zu wissen, dass man an einem Ort zusammenkommen kann, um gemeinsam mit vielen anderen Menschen das Hochamt der Demokratie zu feiern. Und im Gegensatz zu den meist komplexen Inhalten, die in der Politik verhandelt werden, folgt die Wahl recht einfachen, nachvollziehbaren Regeln. Gerade bei der Europawahl: Jeder nur ein Kreuz. Unschlagbar. Und so zieht es Jung und Alt, Dick und Dünn, Klug und Nicht so klug, Arm und Reich in die nächstgelegene Wahlkathedrale, bereit, einer von 41 Gruppierungen sozusagen das Mandat für Europa zu übertragen.
Die Briefwahl ist im Gegensatz zur Stimmabgabe in den Wahllokalen wie ein Gebet im stillen Kämmerlein. Sie ist eine intimere Form des Demokratie-Glaubensbekenntnisses - vielleicht ist das ja der Grund, weshalb immer mehr Menschen per Brief wählen. Näher mein Staat zu dir.
Wir haben - soweit wir uns erinnern können - noch nie per Briefwahl gewählt. Mag sein, dass wir vor allem immer an der Frist gescheitert sind. Am Wahlsonntag kann man mit seiner Wahlbenachrichtigung spontan auch noch um zehn vor sechs ins Wahllokal eilen, wenn es sich vorher einfach nicht ergeben hat. Beim Briefwählen muss man sich irgendwie schon mehr drum kümmern. Und vor allem: deutlich früher.

Aber es gibt noch einen anderen Grund: Wir wissen natürlich, dass 2008 das Wahlrecht geändert worden ist und die Briefwahl seitdem nicht mehr nur unter Angabe irgendeines triftigen Grundes möglich ist. Unterbewusst spielt das aber nach wie vor eine Rolle. Es weckt nämlich die Erinnerung an unseren Antrag auf Kriegsdienstverweigerung - den wir aus unserer Sicht wohlfeil mit eigenen Gedanken formuliert hatten, während die Mitschüler einfach nur Formblätter abgeschrieben hatten. Und wo die Anträge unserer Mitschüler allesamt problemlos durchgingen, wurde unser Antrag abgelehnt. Wir sind dann ebenfalls, mit Erfolg, den Argumenten eines Formblatts gefolgt.