Wie eine Räuberpistole, nur schrecklich wahr

05.05.2008 | Stand 03.12.2020, 5:56 Uhr
Henry Okoroafor mit Fotos, die seinen Bruder Patrick 1995 im Alter von 14 Jahren kurz vor dessen Verhaftung (r.) und 13 Jahre später im Gefängnis zeigen. −Foto: Silvester

Ingolstadt (DK) Seit 14 Jahren lebt Henry Okorafor in Bayern. Fast ebenso lange sitzt sein Bruder Patrick in Nigeria in Haft – zu Unrecht, wie das Höchste Gericht festgestellt hat. Doch wieso Patrick weiterhin auf seine Freiheit wartet, ist eine traurige und groteske Geschichte.

Er hat lange Zeit keinem etwas erzählt. 1994 kam Henry Okorafor aus Nigeria nach Eichstätt, wo er Politologie studierte. Seit 2000 betreibt er in Ingolstadt ein Übersetzungsbüro, aber erst heuer hat er die traurige Geschichte seines Bruders preisgegeben: Patrick Okorafor, heute 27 Jahre alt, sitzt seit 1995 in Nigeria wegen eines angeblichen Raubüberfalls in Haft. Er wurde 1997 zum Tode verurteilt. 2001 erklärte das Höchste Gericht Nigerias das Urteil für "null und nichtig". Doch Patrick wartet immer noch auf seine Freiheit. Schuld sei die Willkür eines Gouverneurs, da ist die Menschenrechtsorganisation amnesty international (ai) sicher. Die Familie kämpft um Patricks Leben, denn er ist schwer asthmakrank und würde ohne Zuwendung von außen wohl bald sterben.

Der 39-jährige Bruder des Justizopfers weiß kaum, wo er er seine Anklage beginnen soll: "Patrick wurde ein fairer Prozess verweigert. Er ist gefoltert worden. Seine Haft ist trotz des Freispruchs unbegrenzt und verletzt internationales Recht!"

Henry Okorafor hat drei Varianten, um zu berichten, wie es passieren konnte, dass ein junger Mann trotz erwiesener Unschuld im Gefängnis sitzt: Eine Kurzfassung, die er während der DGB-Kundgebung am 1. Mai erzählte, wo er mit der ai-Ortsgruppe über 350 Unterschriften für Patrick sammelte. Dann gibt es eine dreiseitige Erläuterung, die ansatzweise illustriert, welches unglaublich fatale, ja bizarre Wechselspiel aus Intrigen und Willkür Patricks Leben zerstört hat. Und wenn Henry die Langversion der Geschichte seines Bruders erzählt, führt er die Zuhörer vollends in die Abgründe einer afrikanischen Militärdiktatur.

Es geht um einen einflussreichen Geschäftsmann, dem kein Trick zu schmutzig ist, einen brutalen Diktator namens Sani Abacha und einen rachsüchtigen Justizminister. Und es geht um Charles Okorafor, den Vater, Staatssekretär für Industrie, der in Deutschland studiert hat und 1995 für den Posten des Botschafters in Österreich oder Deutschland nominiert war. Vor allem aber ist er entschiedener Gegner der Korruption. Das wurde den Okorafors zum Verhängnis, daran hat Henry keinen Zweifel. Der 14-jährige Patrick sei unter fragwürdigen, fast lächerlichen Vorwänden zuerst wegen eines Autodiebstahls und dann (weil diese Anklage nicht einmal in einer Diktatur funktionierte), wegen des Raubs von umgerechnet 50 Euro von einem Militärgericht zum Tode verurteilt worden, "nur um die Karriere unseres Vaters zu zerstören". Die sechs Mitangeklagten wurden binnen einer Woche hingerichtet.

Obwohl Patricks Urteil 2001 von der höchsten juristischen Instanz Nigerias für "illegal, null und nichtig" erklärt wurde, blieb er "nach dem Belieben des Gouverneurs in Haft", wie damals gemäß einem unerwartet erlassenen, ebenfalls fragwürdigen Dekret verfügt wurde. Der Gouverneur verweigere seither die Freilassung, weil der Vater des Justizministers jenem Tribunal angehörte, das Patrick verurteilte habe. Der Richter sei von dessen Anwalt kritisiert worden. "Dafür rächt er sich an meinem Bruder bis heute."

Henry Okorafor weiß, dass sich das wie eine Räuberpistole anhört. Aber in Nigeria sei alles möglich. Daher erzählt er die Geschichte seines Bruders jedem, der sie hören will, mit viel Geduld und tiefer Hoffnung.