Wo die Ausweglosigkeit aus dunklen Ritzen kriecht

07.01.2009 | Stand 03.12.2020, 5:18 Uhr

Drei Männer, drei Generationen: Wilhelm Brumbach (72), Oberhaupt der Familie, Enkel Danny (22) und Sohn Wilhelm Brumbach (47) posieren vor einem Zirkuswagen (von links). Elefanten und Tiger gibt es schon lange nicht mehr beim Circus Lexany. - Fotos: Schattenhofer

Ingolstadt (DK) Das heisere "Iiiaaaah" eines Esels schallt durch den Winterwald am Baggersee, dort, wo sonst nur das Grunzen der Wildschweine, das Röhren der Hirsche oder Hundegebell erklingen. Dann herrscht wieder eisige Stille, man hört fast, wie die Schneeflocken vom Himmel rieseln, bevor wieder der Klageruf ertönt, herzzerreißend. Der Esel gehört zum Circus Lexany, der sein Winterquartier auf dem ehemaligen Sea-Scouts-Gelände aufgeschlagen hat. Ein Durcheinander von Wohnwagen und Zugmaschinen, Käfigen und Zelten, Abfall und Strohballen: 15 Menschen und etwa 40 Tiere leben hier.

Der Esel steht im Zelt auf Stroh, zusammen mit einem Lama, zwei Kamelen und mehreren Pferden. Gerade verteilt ein Mann frisches Heu, deshalb waren die "Iiiaaahs" wohl eher Freudenschreie als Klagerufe. Jetzt ist nur noch das zufriedene Mahlen aus den Pferdemäulern zu vernehmen. Der Mann fährt mit einer Schubkarre voll Futter weiter zum Freigehege, wo die Ponys in ihrem zotteligen Winterfell der Kälte trotzen.

Stolz der Artisten

An dem notdürftig geflickten Zaun steht im Trachtenjanker Wilhelm Brumbach, 47 Jahre alt, Chef vom Circus Lexany. Breitbeinig hat er sich aufgebaut vor Gerd Werding. Der Stadtrat der Freien Wähler (FW) hat den Stein ins Rollen gebracht mit seinen Plänen für die Umsiedelung des Zirkusunternehmens, weil er der Meinung ist, das Areal müsse besser genutzt werden. Die beiden Männer stehen sich zum ersten Mal gegenüber, von Angesicht zu Angesicht, und Wilhelm Brumbach redet und redet und redet: Er spricht mit theatralischen Gesten vom Stolz und Fleiß der Artisten, schwört, er würde kein Hartz IV annehmen und betont, der Zirkus müsse als Kulturgut erhalten werden. Werding schüttelt den Kopf: "Sicher ist es ohne Zirkus ein Verlust von Kultur, aber irgendwann muss man den Schnitt machen." Da klingt der Arzt durch.

Doch Brumbach will sich nicht entfernen lassen wie ein böser Furunkel. Nie und nimmer werde er von Ingolstadt weggehen, sagt er, und es klingt fast schon wie eine Drohung: Seine Familie lebe hier schon seit Generationen, seit 1846 genau. "Meine Oma war Trümmerfrau und hat Ziegel geklopft nach dem Krieg. Meine Großeltern liegen hier begraben, und auch ich werde eines Tages in Ingolstadt sterben." Nein, er lässt sich nicht vertreiben aus der Heimatstadt.

Wie eine Watschn

Selbst wenn sie ihn hier nicht wollen. Der Zirkusmann meint, man greife ihn von allen Seiten an: Warum sonst hätten sie in Ingolstadt fast alle Reklameschilder kaputt gemacht? In anderen Städten und Dörfern gingen immer nur ein paar zu Bruch. Woanders spendeten die Bauern Heu und Kraftfutter. Oder Geschäfte brächten Brotreste vorbei oder was sonst so übrig bleibe an Obst und Gemüse. In Ingolstadt dagegen gibt es keine milden Gaben, nichts. Auch die Schulkinder kommen nicht mehr. Und der Oberbürgermeister habe ihn nicht im Rathaus empfangen. "Das war wie eine Watschn für mich", schimpft Brumbach.

Für die heikle Angelegenheit ist FW-Bürgermeister Sepp Mißlbeck zuständig. Brumbach verfolgt dessen Umsiedelungspläne für den Zirkus mit Misstrauen, behauptet, rund 30 000 Euro in das Gelände und die Erneuerung der Gebäude gesteckt zu haben, damals, nach dem Feuer. "Deshalb bin ich nicht bereit, diesen Ort so einfach zu verlassen. Was ich durchgemacht habe mit diesem Objekt. Ich wollt’ etwas Pfundiges aufbauen in meiner Heimatstadt. Ich hab’ schließlich fünf Kinder und Enkel und muss schauen, wie es weitergeht mit dem Unternehmen." Dann lässt er sich von seinem Sohn Danny einen Prospekt bringen von einer Zirkusschule. "So was will ich hier aufziehen. So was Pädagogisches."

Wilhelm Brumbach geht durch den Schnee zu der ehemaligen Gaststätte und sperrt die Tür auf. Eiskalt ist er hier, an den Wänden hängen Gemälde von Segelschiffen, Seesterne und Fischernetze, auf den Tischen liegt in Kartons vergammeltes Obst und Gemüse, am Boden verstreut Artistengerätschaft zum Jonglieren, ein Satz bunter Hulareifen. "Hier proben wir unsere Musik", sagt Brumbach und zeigt auf die staubigen Verstärker und Lautsprecher. Und dann deutet er auf ein kleines Schwarzweißfoto an der Wand: eine Manege, Zirkuspferde mit Federbüschen. "Der Mann dort ist mein Vater."

Der 72-Jährige Wilhelm Brumbach ist das Oberhaupt der Familie. Er trägt viel Goldschmuck am Hals und an den Fingern und einen silbernen Schnauzer im Gesicht. Der Zirkusdirektor hat sich dazugesellt, hört mit den Händen in den Hosentaschen zu, was sein Sohn alles erzählt und schweigt nur.

In diesem Raum, zwischen den traurigen Überresten einer untergehenden Zirkuswelt, kriecht plötzlich die Ausweglosigkeit aus den dunklen Ritzen und Ecken. Brumbach seufzt: "Die Saison war zwar ziemlich mau, für alle, nicht nur für uns. Aber wir sind noch durch jeden Winter gekommen." Da bricht der alte Mann sein Schweigen: "Wenn du denkst, es geht nicht mehr, kommt von irgendwo ein Lichtlein her."

Es wird langsam dunkel am Baggersee. Der Schnee schluckt jeden Laut. Die klirrende Kälte sinkt wie eine Decke herab. Die Welt wird unsichtbar.