Ingolstadt
"Wir sind eine innovative Einrichtung mit Tradition"

Thomas Herrmann, Leiter des Peter-Steuart-Hauses, geht in Ruhestand, Manuela Müller lebte hier elf Jahre - ein Abschiedsgespräch

20.08.2019 | Stand 02.12.2020, 13:14 Uhr
Gemeinsame Erinnerungen: Manuela Müller lebte elf Jahre im Peter-Steuart-Haus. Thomas Herrmann leitete die Einrichtung 29 Jahre lang. Jetzt geht er in Ruhestand. Eine besondere Verbindung zur Einrichtung werden aber sowohl die einstige Bewohnerin wie auch der scheidende Leiter weiter zu der Einrichtung haben. −Foto: Hammer

Ingolstadt (DK) Nach fast 30 Jahren als Leiter des Peter-Steuart-Hauses geht Thomas Herrmann Ende der Woche in den Ruhestand.

Er war der erste weltliche Leiter der Einrichtung, die auf eine Stiftung des Geistlichen Peter Steuart zurückgeht, der im Jahr 1617 sein Privatvermögen in die Gründung eines Waisenhauses in Ingolstadt gesteckt hat. Seit dem hat sich freilich eine Menge geändert. Geblieben ist der Anspruch, bedürftigen Kindern und Jugendlichen eine Heimat, vielleicht ein Gefühl von Familie zu vermitteln. Zu den unzähligen Kindern, die in den vergangenen Jahrhunderten von der Arbeit des Peter-Steuart-Hauses profitiert haben, gehört Manuela Müller. Die heute 29-jährige Fernsehjournalistin ist im Heim aufgewachsen und hat sich mit Thomas Hermann zu einem Gespräch zu seinem Abschied getroffen.

Frau Müller, Herr Herrmann, ich muss Sie nicht gegenseitig vorstellen. . .

Herrmann: Nein, wir kennen uns schon einige Jahre.

Wie lange genau?

Müller: Es war zwei Tage nach meinem achten Geburtstag, als ich hergekommen bin.

Herrmann: Also seit 21 Jahren. Seit 1998.

Sie, Herr Herrmann, waren damals seit acht Jahren Leiter der Einrichtung. Wie war ihr Start?

Herrmann: 1990 wurden die Schwestern vom Orden der Armen Schulschwestern München aus dem Peter-Steuart-Haus aus Nachwuchsmangel abberufen. Da wurde die Stelle ausgeschrieben. Ich war damals seit elf Jahren im Jugendamt von Eichstätt tätig, und habe mir gedacht: So eine Leitungsstelle in einer Einrichtung könnte ich mir vorstellen. Es gab drei Bewerber in der engeren Wahl und ich wurde genommen und habe am 1. August 1990 hier angefangen. Damals gab es drei stationäre Heimgruppen und die Außenwohngruppe, in der ältere, schon etwas selbstständigere Jugendliche leben. Die war gerade seit einem Jahr in Betrieb. Wir waren damals nicht einmal 20 Mitarbeiter. Heute sind wir an die 70. Wir hatten im Büro eine Verwaltungskraft, die vorher über 25 Jahre als Kinderpflegerin gearbeitet hatte. Die hat dann einen Schreibmaschinenkurs gemacht. Damals hat sie noch ein handschriftliches Journal und ein Kassenbuch geführt. Kurz darauf kam dann der erste PC. Mit MS DOS natürlich. Kurz nachdem ich hier begonnen hatte, wurden kaum noch jüngere Kinder hier untergebracht, sondern die Jugendämter haben uns vor allem größere Jugendliche und auch schwerere Fälle zugemutet und auch zugetraut.

Und wie war Ihr Start im Peter-Steuart-Haus?

Müller: Das war wie gesagt zwei Tage nach meinem achten Geburtstag. Schon alleine, dass alle versucht haben, mir den Geburtstag nachträglich noch einmal ganz schön zu machen, hat mir von Anfang an gezeigt, dass ich willkommen bin. Dass ich aufgenommen werde. Dass ich mich fallenlassen kann. Ich konnte hier zur Ruhe kommen, war endlich angekommen. Ich war schon zwei Jahre vorher in zwei verschiedenen Pflegefamilien gewesen, musste von einem Ort zum anderen. Im Heim war das dann endlich nicht mehr so. Dazu kommt, dass ich mit acht Jahren das Nesthäkchen in einer Mädelsgruppe war. Die anderen waren 14, 15 Jahre alt und haben ihre Rolle als Mutterersatz gerne angenommen. Sie haben mich behütet. Ich hatte von diesem Zeitpunkt an eine sehr schöne Kindheit.

Das entspricht gar nicht dem Klischee vom Heim oder vom Waisenhaus. Das ist ja sehr oft mit Traurigkeit und Einsamkeit belegt. Bei Ihnen scheint das ein ganz positives Ankommen gewesen zu sein.

Müller: Ja, richtig. Bei mir hat eher das Gefühl überwogen, dass ich hier einmal Kind sein kann. Ich konnte einfach sein, wie ich bin, ohne mir über 500 andere Sachen Gedanken oder Sorgen machen zu müssen. Natürlich hat mich die Traurigkeit an dunklen, einsamen Tagen erwischt, aber gerade am Anfang hat immer die Fröhlichkeit überwogen, einfach weil ich so gut aufgenommen worden bin.

Sie haben hier elf Jahre gelebt. Das ist eher ungewöhnlich.

Hermann: Das Ziel heute ist, Eltern vorübergehend zu unterstützen und zu entlasten. Wo es geht, sollen die Jugendlichen aber so schnell wie möglich wieder heim. Diese Familien unterstützende Hilfe ist heute das wesentliche Ziel. Wir können nicht bessere Eltern sein. Heute ist es so: Das Jugendamt stellt den pädagogischen Bedarf fest und schreibt einen - wenn man so will - Reparaturauftrag und sagt: Das und das haben wir festgestellt, bitte biegt das nach Möglichkeit wieder gerade. Die meisten Kinder hier sind ganz normal begabte, die einfach von zu Hause zu wenig gefördert wurden.

Das heißt, dass nicht - um im Bild zu bleiben - das Kind reparaturbedürftig ist, sondern das soziale Umfeld?

Herrmann: Ja, sicher. Alle Eltern wollen ihren Kindern ein gutes zu Hause bieten. Aber gerade in der heutigen Zeit sind Eltern manchmal vorübergehend mit sich und dem ganzen Umfeld überfordert. Oder nach einer Trennung, einer Scheidung. Es gibt Stiefelternprobleme. Damit lässt sich umgehen. Länger bleiben die Kinder und Jugendlichen, wenn etwa eine Mutter krank ist oder sonst Probleme hat, die sich nicht auflösen lassen. Dann ist eine Rückführung nicht möglich. Aber in den allermeisten Fällen haben ja die Eltern noch das Sorgerecht. Das heißt, das Jugendamt bietet diese Hilfe an oder die Eltern oder die Mutter geht von sich aus zum Jugendamt und sagt: Ich kann im Moment einfach nicht mehr. Echte Waisenkinder haben wir nicht mehr, aber Träger des Peter-Steuart-Hauses für Kinder, Jugendliche und Familien, wie es jetzt offiziell heißt, ist immer noch die Waisenhausstiftung Ingolstadt, die vor zwei Jahren 400 Jahre alt geworden ist. Wir sind eine innovative Einrichtung mit Tradition. Das finde ich schön.

Wie haben die anderen Kinder in der Schule reagiert, wenn sie erfahren haben, dass Sie im Heim leben, Frau Müller?

Müller: Ich war auf dem Katharinen-Gymnasium, und da sind mir immer viele Fragen gestellt worden: Darfst Du da überhaupt raus? Kriegst Du Taschengeld? Da musste ich viel Aufklärungsarbeit leisten.

Gab es auch Ablehnung?

Müller: Auf dem Gymnasium ist mir das schon passiert. Wenn ich mich zum Beispiel frisch verliebt habe und dann kam raus, die lebt im Heim. . . Da hieß es dann: Naja, vielleicht dann lieber doch nicht. Aber da war ich noch jünger und vielleicht auch der Junge noch nicht ganz so reif (lacht). Aber wenn ich das heute jemandem erzähle, den ich vielleicht gerade erst kennen gelernt habe, dann ist da eher Interesse als Ablehnung. Das war zu Schulzeiten anders. Aber Kinder sind halt manchmal schon etwas gemeiner.

Kann man eine Familie überhaupt ersetzen?

Herrmann: In den allermeisten Fällen ist der Aufenthalt hier ja eben vorübergehend. Gerade, weil es so viele individuelle Hilfen gibt. Wir bieten etwa im Rahmen der ambulanten Hilfen auch Nachbetreuungen an, ambulante Familientherapie oder Elterntrainingskurse.



Es geht in diesen Fällen also nicht darum, eine Familie zu ersetzen. Wie war das bei Ihnen?


Müller: Für mich war das so, dass ich fünf Elternteile und zehn Geschwister hatte. Ich habe in den elf Jahren viele kommen und gehen gesehen, aber einen harten Kern habe ich noch heute in meinem Freundeskreis. Und die sind nach wie vor eher wie Geschwister für mich. Es stimmt, hier habe ich meine Wurzeln gefunden, hier bin ich zur Ruhe gekommen.

Also doch ein fast familiäres Verhältnis?

Müller: Definitiv. Ich war meine ganze Zeit hier in der Gruppe "Oase". Und da entwickelt man natürlich auch zu den Erziehern eine Bindung. Jedes Kind hat einen Bezugserzieher, der für einen zuständig ist, die ganzen Verwaltungsgeschichten macht, wenn zum Beispiel ein Hilfeplangespräch mit der Familie ansteht und so weiter. Und meine Erzieherin war irgendwann mein Mutterersatz. Leider ist sie vor fünf Jahren gestorben. Aber wir hatten auch nach meinem Aufenthalt im Heim noch ein sehr inniges Verhältnis gehabt. Sie wusste auch mehr über mich als meine leibliche Mutter und hat sich auch viel mehr um mich gekümmert. Sie hat sich zum Beispiel dafür eingesetzt, dass ich auf das Gymnasium gehen kann. Sie ist dann auch mit mir durch die Hölle gegangen, als die Abiprüfungen anstanden, hat alle Sorgen und Ängste mitgetragen. Wenn ich jemanden als Mama bezeichnen müsste, wäre sie das. Es gibt kein anderes Wort dafür.

Herrmann: Sie hat auch immer sehr hartnäckig mit mir verhandelt, wenn es um finanzielle Dinge ging. Egal ob für eine Querflöte oder andere schulische Dinge.

Müller: Ja, da war ich schon ein Sonderfall. In der Zeit, in der ich hier war, waren die meisten auf der Mittelschule. Ein paar auch auf der Realschule. Aber das Gymnasium war eine Ausnahme. Dort wurde auch von ganz anderen Voraussetzungen bei den Schülern zu Hause ausgegangen. Zum Beispiel im Internet für Referate zu recherchieren, war gar keine Frage. Da hab ich gedacht: Mist, da sind wir im Heim noch gar nicht so weit. Wir hatten auf der Gruppe einen Computer, an dem man vielleicht mal was schreiben oder ausdrucken konnte, aber noch kein Internet. Oder eben die Bläserklasse im Katherl. Da lernt die ganze Klasse ein Instrument. Aber da musst Du dann halt auch erst einmal eines haben, in den Musikunterricht gehen. Das kostet alles.

Herrmann: Da ist uns die Musikschule aber sehr entgegengekommen.

Müller: Ich hatte auch nie das Gefühl, mich zurücknehmen zu müssen, nur weil ich im Heim lebe. Irgendwer hat immer geschaut, dass ich mich nicht wie ein Stief- oder Heimkind fühlen musste.

Sie gehen mit diesem Thema sehr offen um.

Müller: Ja, ganz bewusst. Ich möchte den Leuten zeigen, was hier gemacht wird. Ich habe kein Problem, darüber zu reden. Ich sehe das als Möglichkeit, den Leuten die Augen zu öffnen. Ich möchte aber auch den Heimkindern ein Beispiel sein, dass es auch anders weitergehen kann nach dem Heimaufenthalt.

Herrmann: Das ist wichtig. Gerade in der Pubertät ist einem alles peinlich. Da sind die eigenen Eltern schon peinlich, und wenn man dann noch in einer Einrichtung ist, ist es noch peinlicher.

Man merkt, Herr Herrmann, ihre Aufgabe ging weit über eine reine Verwaltungstätigkeit hinaus. Da sind offenbar ganz innige Verhältnisse entstanden. Mit welchem Gefühl gehen Sie jetzt?

Herrmann: Wir hatten vor rund fünf Wochen mal wieder ein Ehemaligen-Treffen. Da ist es natürlich schön, Leute wieder zu sehen, mit denen man als Acht- oder Zehnjährige Fußball gespielt hat und dann kommen die mit 35, 40 oder noch älter und haben ihre eigenen, großen Kinder dabei. Im September feiern wir das 30-jährige Bestehen unserer Außenwohngruppe, da werden sicher wieder einige kommen. Da wird einem deutlich, was man bewirkt hat. Man kann wahrscheinlich nicht aus jedem Jugendlichen einen Super-Staatsbürger machen, aber wenn jemand eine Ausbildung hat, eine Arbeit, eine Wohnung, vielleicht eine Familie, dann haben wir doch wirklich viel erreicht.

Das Gespräch führte

Johannes Hauser.