Vohburg
"Diese Unsitten nicht länger dulden"

Sport- und Kulturwissenschaftler Sven Güldenpfennig fordert ein Umdenken bei den Fußballfans

24.06.2016 | Stand 02.12.2020, 19:37 Uhr

Schaut liebend gerne über den sportlichen Tellerrand: Sven Güldenpfennig. - Foto: Meßner

Vohburg (DK) Eine EM zum Ärgern? Diese provokante Frage stellt Sven Güldenpfennig. Der Vohburger ist Sport- und Kulturwissenschaftler und sieht vieles anders. Zurzeit vor allem das Verhalten der Fußballfans. Der 71-Jährige, früher Leiter des Deutschen Olympischen Instituts in Berlin und Inhaber einer Olympiaprofessur in Hamburg, fragt im Gespräch mit unserer Zeitung, was man von Fans halten solle, die nichts als den Sieg "ihrer" Mannschaft im Sinne haben. "Offenbar herrscht da null Interesse am sportlichen Geschehen selbst."

 

Herr Güldenpfennig, Sie müssen scheinbar immer ins Grundsätzliche. Das Oberflächliche - zum Beispiel das ,Zu einer Mannschaft halten' der Fans - behagt Ihnen nicht so.

Sven Güldenpfennig: Ja, weil es nicht sporttypisch, sondern eine Besonderheit des Fußballs ist.

 

Das gibt es also nur im Fußball?

Güldenpfennig: Nein, aber da ist es besonders extrem.

 

Wo ist es besser oder anders?

Güldenpfennig: Ich habe gerade die deutschen Leichtathletikmeisterschaften gesehen. Das Publikum hat einen Blick für die Ereignisse. Es sagt auch nicht, ich bin vom MTV Ingolstadt, und da unten läuft ,mein', 100-Meter-Läufer.

 

Aber bei der Leichtathletik gibt es gleichzeitig oder zumindest an einem Tag mehrere Wettbewerbe. Und nicht nur das Spiel Deutschland - Nordirland.

Güldenpfennig: Aber die Fans stehen nicht für Deutschland und Nordirland. Sie stehen. . . Jetzt brauche ich etwas Zeit zum Erklären. . .

 

Okay.

Güldenpfennig: Durch die sportpolitische Vorentscheidung, dass wir internationale Wettbewerbe auf nationaler Grundlage machen wollen, gibt es solche Duelle. Ich brauche im Sport zwei Seiten, die sich schlagen können. Die sind nur zufällig Deutschland und Nordirland geworden - durch diese sportpolitische Vorentscheidung. Es hätte auch FC Bayern gegen Real heißen können.

 

Aber der Fan freut sich doch mit "seiner" Mannschaft.

Güldenpfennig: Ich muss doch aber nicht sagen, ich bin für die Mannschaft oder den Klub, nur weil ich zufällig da wohne. Es ist keine Sporthaltung, sondern eine Haltung lokaler oder nationaler Bindung.

 

Die gibt es aber überall.

Güldenpfennig: Vor allem im Fußball. Und sie kommt von draußen, nicht aus der Sportidee.

 

Weil?

Güldenpfennig: Weil die Sportidee keine Repräsentanten für soziale Gemeinschaften setzt. Sie setzt nur die Bedingung, dass wir einen interessanten Wettbewerb haben wollen. Und dass wir dazu zwei möglichst gleichstarke Partner brauchen, damit es guter Sport wird.

 

Und wenn es dann das EM-Spiel Deutschland - Italien gibt, freue ich mich doch, wenn Deutschland gewinnt.

Güldenpfennig: Natürlich ist es tief in uns drinnen, dass die deutsche Mannschaft gewinnt. Aber ich möchte betonen: Es ist nicht sporttypisch.

 

Sporttypisch ist dann. . .

Güldenpfennig: Es ist wie im Theater auf einer großen Bühne. Wenn sie es gut machen, bin ich begeistert. Sie, das sind im Fußball 22 Spieler da unten.

 

Und wenn sie es nicht gut machen?

Güldenpfennig: Dann pfeife ich sie aus.

 

Die Fans pfeifen doch auch im Stadion.

Güldenpfennig: Aber nur, weil sie ihre eigenen Erwartungen enttäuscht sehen. In der Oper pfeifen die Zuschauer, wenn die Performance schlecht ist. Aber nicht, weil ein Sänger Franzose und kein Deutscher ist.

 

Aber pfeifen dürfen die Fans?

Güldenpfennig: Ich habe einen kulturphilosophischen Zugang zu dem ganzen Feld. Und aufgrund dessen trenne ich die Ebenen. Wieso wird gepfiffen, nur weil der Gegner am Ball ist? Das ist eine sportwidrige Parteinahme. Man verweigert der gegnerischen Mannschaft so praktisch die Anwesenheit auf dem Platz. Das ist völlig absurd. Soll ,unsere' Mannschaft alleine spielen?

 

Aber es ist Usus, das Pfeifen.

Güldenpfennig: Ja, aber wir müssen uns fragen, ob diese Herangehensweise zukunftsfähig ist. Ich behaupte: Sie ist es nicht.

 

Aber in der Formel 1 fahre ich doch auch an die Rennstrecke, weil ich zum Beispiel Vettel-Fan bin.

Güldenpfennig: Ich glaube, die Fans fahren vor allem hin, weil sie Motorsportfans sind. Natürlich honorieren sie, dass Vettel oder auch Schumacher fast Unmögliches geschafft haben und einen sehr guten Rennstall geformt haben.

 

Tendenziell bin ich doch aber eher Rosberg- als Hamilton-Fan.

Güldenpfennig: Stimmt, das räume ich ein, ist bei mir auch so. Aber ich muss doch schauen, wie fahren die Auto, wer macht es besser.

 

Also leidet hier die Sportidee, Ihre Sportidee?

Güldenpfennig: Für mich, für die ganze Diskussion, wenn sie gehaltvoll werden soll, müssen wir die Unterscheidung treffen: Was ist aus der Sportidee heraus zwingend notwendig?

 

Was muss sich ändern bei den Fans in den Fußballstadien?

Güldenpfennig: Weil es seit 100 Jahren eingespielt ist, muss ich früh anfangen bei dem Thema. Es aus den Menschen rauszukriegen, ist wahrscheinlich nicht möglich. Es muss entschieden widersprochen werden, wenn es Pfeifkonzerte gibt, weil der Gegner am Ball ist. Das ist sportlich unmöglich. Diese Unsitten dürfen nicht länger geduldet und beschönigt werden. Nach dem Motto: Hier ist Stimmung im Stadion.

 

Das ist nicht rauszukriegen aus den Köpfen.

Güldenpfennig: Ja, wenn wir nicht daran arbeiten. Der Lernprozess muss an der Basis ansetzen. Es braucht eine Veränderung des Kommunikationsstils, dann kann auf den Rängen langsam aber sicher mehr Vernunft einkehren.

 

Zurück zum Fußball: Sie wollen schon, dass Deutschland Europameister wird?

Güldenpfennig: Wenn sie gut spielen. Spielen sie beharrlich schlecht, will ich es aber nicht.

 

Das Gespräch führte

Oliver Konze.