Lenting
Stockblind, aber hellwach

Das Schicksal meinte es nicht gut mit Josef Hierl – aber der Lentinger meisterte sein Leben

27.03.2015 | Stand 02.12.2020, 21:29 Uhr

Blind, aber handwerklich begabt: Der 87-jährige Lentinger Josef Hierl sitzt immer noch gerne an der Werkbank in seinem Haus. Als Besen- und Bürstenmacher ist er bekannt - Foto: Greis

Lenting (DK) „Der geht ja net, der rennt.“ So sehen es die Leute, wenn der Mann schnellen Schrittes die Straßen in Lenting entlanggeht. Dabei tastet er mit einem Stock den Weg, Randsteine und Zäune ab. Er ist völlig blind und einarmig, dieser Josef Hierl.

In Lenting kennen ihn die Bürger, kennen das harte Schicksal, das vor mehr als 60 Jahren einen 15-Jährigen am Arbeitsplatz ins Unglück stürzte. Mittlerweile ist der „Wuni-Sepp“, wie er nach dem Hausnamen genannt wird, 87 Jahre alt. Er hat sein Leben erstaunlich selbstbewusst gemeistert – als Besen- und Bürstenmacher. Er übt das uralte Handwerk immer noch aus, wenn ihm danach zumute ist. Nicht immer, aber gelegentlich um sich herum drei Kinder, sieben Enkel, zwei Urenkel. Er sieht sie nicht, erkennt sie aber an den Stimmen, nimmt sie irgendwie wahr.

In seinem Wohnhaus im Lentinger Süden lebt Josef Hierl – und das ausgerechnet am Rosenweg, wo doch sein Leben nicht gerade rosig war. Im vorigen Jahr starb seine Ehefrau Emma. Wieder so ein Schicksalsschlag.

Doch zurück in seine Jugendzeit. Josef Hierl arbeitet nach der Schulzeit in der staatlichen Munitionsanstalt bei Desching. Am 12. Oktober 1943 explodiert dort beim Öffnen eines Waggons aus ungeklärter Ursache eine Eierhandgranate, in der Hand des damals 15-Jährigen. Die Granate verursacht Verbrennungen an Gesicht und Oberkörper, der linke Unterarm ist abgerissen, die Trommelfelle beschädigt, ein Auge zerstört, eines verletzt.

Vier Tage hoffnungsloser Fall im Krankenhaus, bis man merkt: Der stirbt ja gar nicht. Die folgende Behandlung kommt für das verletzte Auge zu spät. Totale Blindheit. Als Kriegsblinder kommt Hierl in ein Heim mit geistig Behinderten. Erst nach Jahren, man schreibt 1947, wird an die Umschulung, einen Beruf gedacht. Er wählt die Besen- und Bürstenmacherei. „Stockblind, aber hellwach“: So ließ sich der Sepp Hierl einordnen, als er sich nach der Gesellenprüfung 1948 selbstständig macht und im Elternhaus eine Werkstatt einrichtet. Kurz zuvor war die Währungsreform. „Für eine Waschbürste bekam ich gerade mal 45 Pfennig“, erinnert er sich. Er beliefert die Firma Bruckmeier in Ingolstadt, aber der blinde Bürstenmacher ging mit seinen Produkten auch hausieren, wie man den Verkauf an der Haustür heute noch nennt.

Das Sortiment umfasst rund 30 Arten: von der Schuhbürste bis zur Wurzel- oder Klobürste, Besen, Glanzbürsten und so weiter. „Im Monat 400 Handbesen und Bürsten, das war kein Problem für mich“, erinnert er sich an seine Produktivität. Als Mitglied des Landesverbands kriegsblinder Handwerker fährt er zuweilen auch nach München, mit der Bahn, natürlich allein, angewiesen auf hilfsbereite Menschen. Dieses alleinige Auftreten verändert 1954 schicksalhaft sein Leben – positiv.

Da hilft eine junge Frau diesem Blinden durch den Münchner Hauptbahnhof, man redet miteinander, tauscht Adressen aus. Es entwickelt sich eine briefliche Verbindung, bis 1956 die gelernte Krankenschwester Emma aus dem Chiemgau den blinden Josef aus Lenting an den Traualtar führt. Die Familie wächst. Es kommen Angelika, Josef und Heidi – und weiterer Nachwuchs.

Konstant aufwärts geht es auch mit der Bürstenmacherei. Erst folgt die Einrichtung in dem 1950 erbauten Wohnhaus am Rosenweg, in dem es mit der Zunahme der Familie bald zu eng wird. Also bauen die Hierls 1970 ein zweites, vergrößertes Doppelhaus in derselben Straße.

Für die Qualität seiner Arbeit und sein Lebenswerk mit der Sicherung der beruflichen und finanziellen Existenz zollt man dem blinden Mitbürger in Lenting allseits großen Respekt. Zu diesem Ansehen trug schon frühzeitig auch der Umgang mit seiner Umgebung bei: Josef Hierl blieb ein aktives Mitglied der Dorfgemeinschaft. Zum Beispiel bei vielen Vereinen, nicht nur als Beitragszahler.

Ein Blinder? Wie das denn? Beispiel Wanderverein Naturfreunde: Wandern am Samstag und Sonntag, jede Woche um die zehn Kilometer. Bei den früheren Tanzveranstaltungen des Trachtenvereins im Maiersaal war er einer der fleißigen Tänzer. Und marschierte in der Tracht bei Festzügen hinter der Fahne her. Schwimmen in Kösching beim Versehrtensportverein gehörte regelmäßig auch dazu, „damit ich ein bisserl was mitkriege“, so der Ansporn.

Auch das Schafkopfen war ein sehr geschätzter Freizeitfüller. Wie sich der blinde Kartler die 32 (gelochten), schon gespielte und noch im Spiel befindlichen Karten und Stiche merken konnte, da staunten die Mitspieler. Und wunderten sich gar nicht mehr, wenn er regelmäßig gewann. Hellwach ist er geblieben, auch wenn zwischenzeitlich die körperliche Motorik bei ihm etwas nachgelassen hat. Behalten hat Hierl aber eine stets erkennbare eigene Art guter Laune.