Laut
"Depressive Frauen weinen, depressive Männer schweigen"

Am 10. Oktober ist Tag der seelischen Gesundheit

09.10.2015 | Stand 02.12.2020, 20:42 Uhr

Kein Kind von Traurigkeit: Diplompsychologe Klaus Stöhr - Foto: Eberl

Klaus Stöhr spricht im Interview über Zahlen, alte und neue Diagnosen und geschlechterspezifische Symptome der Depression.

Laut aktuellem Gesundheitsreport der Techniker Krankenkasse ist die Zahl der wegen psychischer Krankheiten fehlenden Mitarbeiter in Bayern letztes Jahr um zehn Prozent gestiegen. Auf 100 Mitarbeiter kommen fünf, die wegen seelischer Krankheiten fehlen. Worauf führen Sie diesen Anstieg zurück?

Klaus Stöhr: Die Bundestherapeutenkammer in Berlin befasst sich jedes Jahr mit solchen Zahlen. Die Zahlen, die der Studie zur Erwerbsunfähigkeit 2013 dienen, beziehen nicht nur die der großen Krankenkassen mit ein, sondern auch die der Rentenkassen. Was man über längere Zeit beobachten kann, ist, dass sich von 2002 bis 2012 die Zahl der Arbeitsunfähigkeitstage wegen psychischer Erkrankungen fast verdoppelt hat – konkret um 96 Prozent. Und gleichzeitig ist die Anzahl der körperlichen Erkrankungen, die zu einer Arbeitsunfähigkeit führten, gesunken.

 

Woran liegt das?

Stöhr: Da komme ich gleich zur ersten Hypothese. Es kann sein, dass früher hinter den somatischen Diagnosen, die man auf der Krankschreibung vermerkte, in Wirklichkeit psychiatrische Erkrankungen steckten, die dort entweder „versteckt wurden“, oder man hat nicht erkannt, dass das, was als Beschwerden vorgetragen wurde, eine psychiatrische Erkrankung war und nicht ursächlich eine somatische Erkrankung.

 

Das heißt, der Anstieg ist nicht real so stark, es sind nur die Diagnosen anders?

Stöhr: Das ist zu vermuten, aber man kann es letzten Endes nicht beweisen. Was noch wichtig ist: Es ist die zweithäufigste Ursache, weswegen Menschen krankgeschrieben werden, nach Erkrankungen des Muskel- und Skelettsystems. Was man in Studien jetzt auch genauer berücksichtigt, ist die Anzahl der Krankheitstage. Die liegt momentan im Durchschnitt bei 34 pro Jahr. Das heißt: 15 Prozent der gesamten Arbeitszeit des Jahres gehen in die Krankschreibung allein aufgrund psychischer Störungen.

 

Worauf ist diese Entwicklung zurückzuführen?

Stöhr: Das eine ist eine bessere Aufklärung der Ärzte, die damit zu tun haben. Das manifestiert sich nicht nur in der Anzahl der Krankschreibungen, sondern auch der Frühverrentungen. Die Frühverrentung wegen psychischer Störungen liegt im Durchschnitt bei einem Alter von 49 Jahren. Das muss man sich mal vorstellen. Es werden viele Menschen schnell erwerbsunfähig aufgrund psychiatrischer Erkrankungen. Da spielt ein ganzes Bündel von Faktoren eine große Rolle.

 

Immer größerer Druck in der Arbeitswelt zum Beispiel?

Stöhr: Wir haben veränderte Bedingungen in der Arbeitswelt, wir haben veränderte Bedingungen in den Familien, die Anzahl der Singlehaushalte wächst, es gibt die Großfamilie nicht mehr. Viele definieren sich über ihre Arbeit. Und wir haben zum Teil auch bestimmte Erkrankungen früher nicht erkannt. Ein ganz typisches Beispiel wäre die Depression bei Männern.

 

Wie unterscheidet sich die von der bei Frauen?

Stöhr: Früher hat man postuliert, jeder achte Mann wird einmal im Laufe seines Lebens psychisch krank im Sinne einer Gemütsstörung, bei Frauen hingegen jede vierte. Es kann aber sein, dass diese Zahlen nicht stimmen, dass es eins zu eins ist, weil man bestimmte Symptome nicht kannte oder auch einfach nicht beachtet hat. Gerade bei Männern wurden Symptome oft nicht erkannt, nicht beachtet. Depressive Männer neigen nicht wie Frauen dazu, sich zurückzuziehen, sie kasteien sich.

 

Der starke Mann gibt eine Depression nicht zu.

Stöhr: Nein, er kann das psychische Leiden nicht zugeben. Deshalb kommt es bei ihm zu drei A-Symptomen, die bei Frauen nicht vorhanden sind: Arbeitswut, Aggressivität und ein deutlich erhöhter Alkoholkonsum. Das ist typisch männlich. Depressive Frauen weinen, depressive Männer schweigen.

 

Dann gibt es bestimmt eine hohe Dunkelziffer.

Stöhr: Ja. Oft ist es so, dass die Männer ganz exzessiv Sport treiben. Oder sie sind sehr gereizt. Schwer depressive Männer können buchstäblich über Leichen gehen. Das hat man früher nicht erkannt, obwohl es historische Beispiele gibt: Bei Napoleon gilt als sicher, dass er depressiv war. Und er hat auf dem Russland-Feldzug viele Tote hinterlassen. Das Gleiche gilt für den Alten Fritz, als er gegen Österreich kämpfte. Der war auch wiederholt schwer suizidal und wollte sich umbringen. Aggressivität als typisch männliches depressives Symptom.

 

Inwieweit sind die Hausärzte geschult, solche psychischen Krankheiten zu erkennen?

Stöhr: Die haben sich sehr belesen und gehen in Weiterbildungen. Sie stehen auch in der Verantwortung, sich mit solchen Krankheiten zu befassen, weil sowohl die niedergelassenen Psychiater als auch die niedergelassenen Psychotherapeuten enorme Wartezeiten haben. Den Hausärzten bleibt gar nichts anderes übrig, als sich da schlauzumachen.

 

Ab wann spricht man von einer seelischen Erkrankung?

Stöhr: Das hängt vom Leidensdruck ab, den jemand hat – sein persönlicher oder der seiner sozialen Umgebung. Es gibt psychiatrische Erkrankungen, wo der Erkrankte überhaupt keinen Leidensdruck hat, aber die Angehörigen leiden ganz enorm. Beispiel ist etwa eine affektive Störung im Sinne einer Manie. Der Betroffene fühlt sich pudelwohl, ist voller Energie, braucht wenig Schlaf, lebt sein Sexualleben aus und merkt dabei gar nicht, was er alles kaputt macht.

 

Wie soll man sich verhalten als Angehöriger oder Freund, wenn einem ein solches Verhalten auffällt?

Stöhr: Man darf es nicht ignorieren. Man muss herausfinden, wie der Einwand bei dem Betroffenen ankommt. Und wenn es so weit kommt, dass sich der Betroffene selbst in Gefahr bringt oder von ihm eine Gefahr ausgeht, dann muss man sich an entsprechende Behörden wenden, um sich fremde Hilfe zu holen. Das wäre die Betreuungsstelle, wo man prüfen lässt, ob jemand vorübergehend im Zweifelsfall auch gegen seinen Willen in die Klinik gehen muss.

 

Ist das nicht eher Wegsperren statt Therapie?

Stöhr: Wir dürfen keine Zwangsmedikation verordnen. Die Richter entscheiden über vorgeschlagene Medikamente und Dosierungen. Es gibt aber in der Tat Situationen, wo der Betroffene in Gesundheit und Leben gefährdet ist. Stellen Sie sich vor, jemand geht auf den Audi-Kreisel und versucht, dort den Verkehr zu regeln. Oder jemand ruiniert seine ganze Familie. Ich habe wiederholt erlebt, dass jemand eine Hypothek aufs Haus aufgenommen hat, um einen Sportwagen zu kaufen.

 

Sie sind auch als Gerichtsgutachter aktiv. Inwieweit hat sich die Zahl der Straftaten aufgrund psychischer Probleme erhöht?

Stöhr: Es gibt eine eindeutige Steigerung. Das zeigt sich auch an der Anzahl der Personen in den forensischen Einrichtungen, bei denen eine Persönlichkeitsstörung diagnostiziert wurde.

 

Das Gespräch führte

Ruth Stückle.