Ingolstadt
Ein Tag im August

Heute vor einem Jahr hielt die Geiselnahme im Rathaus Ingolstadt in Atem

18.08.2014 | Stand 02.12.2020, 22:20 Uhr

 

Ingolstadt (DK) Mehrere Schüsse der Polizei beendeten heute vor einem Jahr das Geiseldrama im Alten Rathaus. Der Täter, der sich ab 23. September vor Gericht verantworten muss, hielt vier Personen – darunter Bürgermeister Sepp Mißlbeck – teils über Stunden in seiner Gewalt. Ein Blick zurück.

Die Wendeltreppe knarzt wie eh und je. In gut 130 Jahren haben die Holzstufen im Alten Rathaus viel erlebt. Aber wohl noch nie zuvor einen Tag, wie jenen heute vor einem Jahr, den 19. August 2013. Ingolstadt machte unfreiwillig bundesweite Schlagzeilen. Eigentlich hätte es der Merkel-Tag werden sollen. Die Kanzlerin war angekündigt. Auf dem Rathausplatz bauten Arbeiter bereits die Bühne für sie auf. Dann folgten rot-weiße Absperrbänder an den Zugängen. Das machte stutzig. Es war doch gerade 9 Uhr, und die Kanzlerin sollte erst am Nachmittag auftreten. Aus dem Herumdrucksen der Polizisten und Feuerwehrler an den Flatterbändern erwuchs die Gewissheit. Etwas anderes war im Gange, etwas für Ingolstadt Ungehörtes: eine Geiselnahme im Alten Rathaus.

Ein Jahr danach begleitet diese unwirkliche Vorstellung noch jeden Schritt die Wendeltreppe hinauf in den zweiten Stock des Gebäudes. Hier oben spielte sich das ab, was sich zum Drama ausgewachsen hat, zur neunstündigen Nervenschlacht, die erst durch ein Sondereinsatzkommando (SEK) der Polizei gewaltsam beendet wurde.

Das Knarzen setzt sich auch auf dem Parkettboden fort, der noch näher zum Schauplatz führt. In der Nordwestecke im Rathaus taucht die Milchglastür auf, die der damals 24-jährige Geiselnehmer in der Früh mit einer (täuschend echt aussehenden Spielzeug-) Pistole und einem Messer bewaffnet öffnete, und durch die neun Stunden später das SEK stürmte, um ihn mit Schüssen außer Gefecht zu setzen. Hier sitzt die junge Vorzimmerdame von Sepp Mißlbeck, die mit dem dritten Bürgermeister sowie dem Beschwerdemanager der Stadt und einer weiteren Mitarbeiterin so lange Zeit in seiner Gewalt verbringen musste.

Die Tür war von den Spezialkräften gesprengt worden, der Teppich nach den Schüssen vom Blut des Geiselnehmers getränkt. Davon ist längst nichts mehr zu sehen. Der Alltag kehrte schon bald nach der Renovierung ein. Die Wunden sind beseitigt, zumindest die oberflächlichen.

Wie es bei den Opfern des mutmaßlichen Täters aussieht, wird ab dem 23. September am Landgericht deutlich werden. Der Bürgermeister und die anderen Geiseln sagen als Zeugen aus. Dann wird gegen den 24-Jährigen prozessiert – wieder. Er kennt das bereits: Wenige Tage vor der Geiselnahme war der psychisch angeschlagene Mann wegen Stalkings eben jener Bürgermeistermitarbeiterin verurteilt worden. Sein Weg ins Rathaus war da freilich nicht abzusehen.

Ingolstadt wurde für einen Tag zum Zentrum des Interesses. Kamerateams aller großen Sender rückten an. Viele übertrugen live. Bis die Show mit einem Donnerhall vorbei war. Danach ist viel über Sicherheit geredet worden. Wie zuvor an den Gerichten, als ein Staatsanwalt in Dachau erschossen worden ist. Die Justiz führte Sicherheitsschleusen ein. Doch wie sollte man in einem Rathaus reagieren? Einem Haus der Bürger, in dem nicht nur deren gewählte Vertreter residieren, sondern der Bürger sich im wahrsten Wortsinne auch Rat holen kann. Die Diskussion in Ingolstadt war schnell beendet, weil es keine darüber geben konnte, ob das Rathaus zum Sicherheitstrakt wird.

Etwas anderes hatte man dagegen nicht in der eigenen Hand: Weitere Gewalttaten sollten Ingolstadt im Herbst 2013 erschüttern. Dass die blutige Geiselnahme nur der Auftakt war, lässt sich auch heute noch kaum glauben.