Ingolstadt
Wo soll das hinführen?

11.11.2010 | Stand 03.12.2020, 3:28 Uhr

 

Ingolstadt (DK) Wo immer es den Neuling bei seinen Streifzügen durch die fremde Stadt hinführt, er trifft auf ein Dilemma: Einerseits wissen die Ingolstädter sehr genau, wie gut sich die Dinge in den letzten Jahren entwickelt haben; wie reich sie sind an Geschichte, an sozialer Infrastruktur, an Bildungshäusern und an der Audi.

Kurzum: Im Vergleich zu anderen Städten geht’s den Menschen hier gut. Andererseits hält die gefühlte Stimmung nicht Schritt: Ein dutzend-, nein, mindestens drei dutzendmal wurde der Autor mit dem Hinweis willkommen geheißen, Ingolstadt sei dem Titel nach eine Großstadt, dem Wesen nach aber ein Dorf. Vordergründig mag das scherzhaft gemeint sein. Tatsächlich indes verrät soviel verschämter Stolz eine tiefe Verunsicherung. Wo steht die Stadt, wo treibt es sie hin? Was wollen die Bürger, wozu sind die Politiker, die Geschäftsleute und die Kulturschaffenden imstande?
 
Diesen Fragen stellt sich der neue Lokalchef des DK heute mit vier Thesen zur Stadtpolitik. Als frisch Zugereister nutzt er so ein besonderes Privileg – den unverdorbenen Blick ohne Abhängigkeiten.
 
1. Die Wahrheit will keiner hören.

Vielen, die in Ingolstadt Verantwortung tragen, fehlt es an Gelassenheit. Kritik ist unerwünscht. Mehr noch: Sie wird als Nestbeschmutzung diskreditiert, noch bevor der Kern ans Licht kommt. Redet ein Gast bei IN-City Klartext, wird er geschmäht. Vermissen die Altstädter  Supermärkte, hält die Verwaltung beleidigt dagegen. Ödnis vorm Rathaus; zu wenige Busse im Nahverkehr; wirre Öffnungszeiten in der City: Wer sich beklagt, kassiert reflexartig Haue. Dass in so einem Klima keine Debatte, kein Wettstreit der Ideen und keine lustvolle Entwicklung gedeiht, ist bitter – für die entlegene Donau genau so wie für die altbackene Fußgängerzone. Zudem schneiden sich die Abblocker ins eigene Fleisch: Die Begeisterung eines unbeteiligten Publikums hält sich naturgemäß in Grenzen – für Gelungenes (Leerstandsmanagement, Rettung der Festungsbauten) genauso wie für Kommendes (Gießereigelände).
 
2. Drinnen bleibt man lieber unter sich

Natürlich, die historische Mauer und die Altstadt dahinter sind ein Schatz. Nur schade, dass sich nie einer um die Stadt davor gekümmert hat: Gleich, ob man die A 9 über die Goethe- oder die Manchinger verlässt, der erste Eindruck ist ebenso trübe wie betrüblich: Das also ist sie, die Boom-Town. Null Architektur für ein Oh, kein Hingucker für ein Ah. Das Auffälligste noch ist eine Kette mysteriöser Wegweiser: Hotelroute, Museumsführer, Saturn-Pylon. Ih! Von denen, die es bis ins Zentrum schaffen, bleibt kaum einer lange: zu viele Hotels auf dem Stand der 80er und zu wenige Wohnungen auf Höhe der Zeit. Bleibt man hier lieber unter sich? In Ingolstadt haben selbst sanierte, neu aufgebaute Häuser kleinere Fenster als anderswo. Tatsache: Vielen, die mit Glas und Dachterrassen neues Leben in die Stadt holen wollten, sind die Denkmalschützer aufs Dach gestiegen – auch das eine Frage der Weltoffenheit.
 
3. Der Zuzug ist mehr als eine Ausrede
 
Gerade, weil Ingolstadt aus einfachen Verhältnissen kommt und gerade, weil es so rasend wächst: Von derlei Chancen können andere nur träumen. Jahr für Jahr 1000 neue Menschen – was für ein Potenzial an Kreativität, an Erfahrung, an Austausch! Indes: Von alleine fließen der Stadt diese Ressourcen nicht zu. Um aus hier-Wohnenden hier-Lebende zu machen, fehlen Angebote, die über ein Kino am Westpark, ein paar Bänke am Ufer und über angestaubte Lanzen hinausgehen. Anderenorts mag man gezwungen sein, abzuwickeln – hier sollte man nachlegen, ohne sich allein auf Audi zu verlassen. Die Stadt muss weitere Partner motivieren, privates Engagement wecken. Und weil Vernetzen so wichtig ist: Eine besonders geforderte Stadt braucht eine besonders fähige Stadtplanung. Eine mit Persönlichkeit und Charakter. Eine, die nicht nur reagiert; eine mithin, die Projekte mutig in den Raum stellt.
 
4. Was fehlt, ist ein Befreiungsschlag.
 
Der Wolkenbügel ist Geschichte. Sei’s drum. Aber vergebens war der Braunfels-Entwurf schon deshalb nicht, weil er ein Schlaglicht darauf wirft, was in der Stadtplanung fehlt: die Weitsicht. Die Stadt braucht ein architektonisches Ausrufezeichen, das den Tag und den Rand des eigenen Tellers überstrahlt – trotz, neben und nach der lahmen Bebauung des Gießereigeländes. Das Ufer der Donau reicht ja über den Dallwigk hinaus, weiter jedenfalls als der Wagemut des OB: Dabei könnte Alfred Lehmann einen Befreiungsschlag durchaus gebrauchen. Es ist der ideale Moment, ein Projekt zu erfinden, das neben den Städte-Rankings auch die Herzen der Menschen erreicht. Lehmann hat es ohne Stadtbaurat versucht. Nun muss er alleine sehen, was er draus macht. Dass er punktuell mehr riskiert, als ihm die Öffentlichkeit zutraut, hat er schon einmal bewiesen: Der Sportpark steht.

Von Eric Metzler



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