Ingolstadt
Wo sind die Männer?

Viele Chöre in der Region klagen über Nachwuchsmangel und setzen auch mit kreativen Werbeaktionen auf die Jugend

03.11.2016 | Stand 02.12.2020, 19:06 Uhr

Fröhliche Truppe: Den Männern geht es bestens im Ingolstädter Jazz-Pop-Chor SingINpool. Trotzdem werden händeringend männliche Mitsänger gesucht. Auf diese freuen sich (von links): Yvonne Duttler, Irmtraud Chladek, Evi Schneider, Rainer Teufel, Chorleiter Joachim Tag, Bert Steger, Tina Wolf, Petra Graupner, Birgitta Romes. Wer SingINpool einmal live erleben möchte, hat dazu am 12. November um 19.30 Uhr im Rahmen der "Stunde der Kirchenmusik" in der Matthäuskirche die Gelegenheit. - Fotos: Gülich

Ingolstadt (DK) Es ist ein Paradoxon: Singen macht bekanntlich glücklich. Stark auch. Und Singen ist gesund. Trotzdem herrscht in fast allen Chören in Ingolstadt und Umgebung Männermangel. Wie ist das möglich? Wir sind dem Phänomen auf die Spur gegangen.

SingINpool ist einer der kleineren Chöre in Ingolstadt: elf Mitglieder, davon zwei männliche Sänger und der ebenfalls männliche Chorleiter, der gleichzeitig auch der begleitende Pianist ist. "Wir sind eine kleiner Chor, aber in der Umgebung einzigartig durch unsere Jazz-, Pop- und Musical-Ausrichtung", erzählt Rainer Teufel, einer der beiden Männer des Ensembles. "Wir sind nicht konfessionell gebunden, offen, meistens guter Laune und singen quasi generationsübergreifend", fügt Chorleiter Joachim Tag hinzu. Die Chormitglieder sind zwischen 40 und 72 Jahren alt, im "normalen Leben" gehen sie den verschiedensten Berufen nach, vom Krankenpfleger bis zur Unternehmerin. Die Freude und Faszination am Singen vereint die elf ganz unterschiedlichen Menschen.

"Aber SingINpool hat ein großes Problem", erklärt Chorleiter Tag: "Wir leiden an eklatantem Männermangel! Intensive Werbemaßnahmen, ,Wanted €˜-Flyer, persönliche Einladungen an Freunde und Bekannte sowie Kontakte in Workshops waren bisher erfolglos - und es nahen zwei größere Auftritte." Sänger Rainer Teufel hatte die Idee eines Sing-Flashmobs in einem Baumarkt - "da, wo sich Männer normalerweise aufhalten", sagt er augenzwinkernd. Dagegen sperren sich bisher aber noch einige der weiblichen Chormitglieder.

Wenn man sich die neusten Forschungsergebnisse zum Thema Singen ansieht, müssten die Chöre eigentlich von Interessenten überrannt werden. Auf dem Buchmarkt gibt es jede Menge Publikationen wie "Singen macht glücklich" oder "Warum singen das Leben froh macht". Singen macht demnach stark, weil beim Singen Glückshormone, die gegen Angstzustände und Depressionen wirken, ausgeschüttet und Stress- und Aggressionshormone zurückgebildet werden. Außerdem werden bei regelmäßigem Singen die Synapsen im Gehirn neu vernetzt (es macht also auch klug). Und dass bei einem geträllerten Lied die Arbeit leichter von der Hand geht, hat sicher jeder schon einmal selbst erlebt.

Christopher Loy ist 29 Jahre alt und Leiter des Köschinger Gospelchors mit rund 60 Sängern, davon neun Männer. Das Fehlen der Männer in den Chören der Region hat aus seiner Sicht mehrere Gründe. "Viele gesangsfreudige Stimmen sind in den Männergesangsvereinen organisiert, die bei uns eine sehr lange Tradition haben und wo die soziale Komponente sicher auch wichtig ist. Aber auch sie beklagen zunehmend einen Mangel im Nachwuchs." Außerdem sei es heute für Vollzeitbeschäftigte oft schwierig, ein doch relativ intensives Hobby wie Chorsingen zu betreiben. Zu den Proben kommen Konzerte und andere Auftritte. "Und die Freude am Singen ist häufig bei Frauen stärker ausgeprägt. Männern muss man da eher gut zureden. Irgendwie müssen sie erst über einen imaginären Schatten springen", so Loy.

Die Leiterin des Wettstettener Kirchenchores, Erika Brosinger, betont - wie Loy - die wohl für Männer besonders wichtige soziale Komponente. "Im Wettstettener Kirchenchor sind von 32 Aktiven immerhin elf Männer. Für die ist der Donnerstag ein wichtiger Tag. Das gemeinsame Singen gehört dazu, wie auch das Treffen hinterher zum gemütlichen Beisammensein. Entfällt die Probe, dann trifft man sich meistens trotzdem", erzählt sie.

Eva-Maria Atzerodt, seit 1990 Leiterin des Jugendkammerchores und seit 2013 des Motettenchores, liegt der Männernachwuchs für die Chöre der Region sehr am Herzen. "Bei uns ist zwar der Notstand noch nicht ausgebrochen, aber natürlich gibt es Fluktuation. Wir freuen uns immer über neue Sänger", sagt die Schulmusikerin. Ihr Ansatzpunkt ist die Jugend: Die Situation für Kinder und Jugendliche habe sich in den letzten Jahrzehnten sehr gewandelt. "Das betrifft natürlich auch die Chöre. Wo es früher hieß ,Du gehst jetzt in den Chor! €˜, gibt es heute viel mehr Freiheiten und Wahlmöglichkeiten", so Atzerodt. Sie ist überzeugt, dass gerade für Buben der Chorleiter eine entscheidende Rolle spielt: "Für die Aufführung der Carmina Burana im Reuchlin letztes Jahr hatte ich für die Jungs einen Stimmbildner da, der mit ihnen gearbeitet hat, so von Mann zu Mann. Da waren sie hinterher völlig begeistert. Überhaupt ist im Kinder- und vor allem dann im Jugendalter die Peergroup superwichtig. Und dass auch mal was los ist im Chor." Atzerodt organisiert Probenwochen und Konzertreisen, wo sie nur kann. "Auch im Wahlfach Chor in der Schule ist das gemeinsame Wegfahren eine ganz wichtige Sache", so die Schulmusikerin.

Dass das Thema "Nachwuchsförderung bereits im Kindesalter" ein entscheidendes ist, macht auch der Oldenburger Musikwissenschaftler Gunter Kreutz ("Warum singen glücklich macht") deutlich: "Über 70 Prozent der Chorsänger haben ihre ersten Gesangserfahrungen im Alter von bis zu 18 Jahren gesammelt", stellt er fest.

Der gleichen Meinung ist auch Darina Radomski-Rosenthal, die seit drei Jahren in Ingolstadt die Kleinen Nachtigallen, einen Chor für Kinder im Grundschulalter, leitet. Das Motto der Nachtigallen: Singen macht glücklich und stark! Der Chor führt jedes Jahr ein musikalisches Theaterstück auf, heuer zum Thema "Piraten" - um Jungs zu motivieren. Auch beim Einsingen und der Liedauswahl achtet die Chorleiterin darauf, dass sie "ihre Jungen" anspricht. "Da wird es dann auch manchmal etwas wilder", erzählt sie lachend. Aber gerade im Hinblick auf den Männermangel in Erwachsenenchören hält sie es für sehr wichtig, Buben im Kindesalter an das Singen heranzuführen. "Leider hören viele nach der Grundschule wieder auf, aber hoffentlich erinnern sie sich später daran, dass Singen Spaß macht. Wer als Kind oder Jugendlicher nicht gesungen hat, wird es auch meistens als Erwachsener nicht tun", meint die Musikpädagogin.

Es bleibt festzuhalten: Für den aktuellen Männermangel in den Chören der Region hilft die momentane Jugendförderung kurzfristig nicht - sehr wohl aber für die kommenden Jahre. Jetzt sind eher Motivation von singenden Freunden oder Bekannten, ein Erinnern an vergangene Chorzeiten und eventuell ein ansprechendes "Beiprogramm" gefragt. Oder halt doch der Flashmob im Baumarkt. Sollten demnächst von Bauhaus & Co. überraschende Chorauftritte gemeldet werden, wissen wir: Leider immer noch Männernot bei SingINpool - und der Chor hat zum letzten Mittel gegriffen. Das dann hoffentlich fruchtet! Denn wer will schon nicht stark, klug und glücklich sein