Ingolstadt
Was wollen die Leser von morgen?

Ein Vormittag in der Kinderbuchabteilung: Zwischen Bilderbuchklassikern und flüchtigen Trends

26.08.2014 | Stand 02.12.2020, 22:18 Uhr

Schöne bunte Bücherwelt: Der DK-Helfer und kleine Buchhandlungsbesucher aus der „Kindervilla“ der Bürgerhilfe betrachten ein interaktives Fußballbuch. Wenn auf die Tasten rechts am Seitenrand gedrückt wird, pfeift der Schiedsrichter, oder die Fans schreien „Tooor!“ - Foto: Eberl

Ingolstadt (DK) Der Einzelhandel ist von so vielem abhängig: Von der Lage, von der Jahreszeit und vom Wetter, von den großen Konjunkturzyklen und dann auch noch von den persönlichen Launen und Befindlichkeiten der Kunden – und von Trends.

Wenn einige Faktoren zusammenkommen, kann das je nach Kombination eine Kauflawine auslösen, die über das Ladenpersonal hinwegrauscht, oder aber eine kleine Flaute, die zu beschaulichen Stunden zwischen Regalen und Warentischen führt. So gesehen ist ein Dienstagmorgen in der Altstadt nicht gerade die Zeit des Ansturms. Denn dieser zweite Wochentag, weiß Buchhändlerin Angelika Steidl, ist traditionell eher umsatzschwach. Hinzu kommt diesmal: Es ist Ferienzeit und Monatsende. Viele Leute haben da ihr privates Budget bereits weitgehend ausgeschöpft. Zudem hat es früh morgens noch geregnet, und der Tag hat wolkenverhangen begonnen. Da zieht es nicht viele zum Einkaufsbummel in die City. Und so ist an diesem Morgen im Obergeschoss von Hugendubel an der Theresienstraße gut Zeit, der Aushilfe aus der DK-Redaktion die Prinzipien einer Kinder- und Jugendbuchabteilung zu erklären: Rund 50 Prozent dessen, was gegenwärtig auf diesem Sektor von den Verlagen angeboten wird, findet sich auf dieser Etage, schätzt Expertin Steidl, die in der Ingolstädter Filiale der Münchner Bücherkette auch für den gesamten Einkauf zuständig ist. Wer sich hier auskennen will, muss schon fast alles, was vorrätig oder lieferbar ist, zumindest per Katalogangabe wahrgenommen, besser aber mal durchblättert oder gar gelesen haben. Keine Frage, dass ein Neuling hier völlig überfordert ist und nur da und dort mehr als Zaungast verfolgen kann, wie der Kundschaft geholfen wird.

Immerhin hat der Aushilfsjob aber mit einer Arbeit begonnen, die fast jeder verrichten kann: Kunststoffkisten vom großen Stapel auf Transportwagerl umzuheben und per Aufzug auf die Etagen der Buchhandlung zu verteilen. Das gehört zum alltäglichen Frühsport des Personals. Lange vor der Geschäftsöffnung haben Kurierfahrer das im Laden abgestellt, was am Vortag vom Grossisten oder aus dem firmeneigenen Zentrallager bestellt worden ist. Allein für die Kinderbuchabteilung sind diesmal rund 30 Behälter dabei gewesen. Einiges ist für eine Aktion in der kommenden Woche gedacht, anderes muss im Laufe des Tages auf die Regale und Präsentationstische verteilt werden. „Da wird es nie langweilig“, sagt Angelika Steidl. Immer, wenn gerade kein Kundengespräch nötig ist, wird wieder etwas vom Stapel abgearbeitet, einsortiert, zurechtgelegt.

Derweil schaut sich eine junge Mutter nach Kleinigkeiten um, die demnächst in die Schultüte für den Junior gepackt werden sollen – nicht unbedingt aber Bücher. Bunte Gummibänder, aus denen Armbänder geflochten werden können, sind gerade bei Vorschul- und Grundschulkindern besonders angesagt. „Da waren wir fast die Einzigen, die das im Angebot hatten“, freut sich Fachfrau Steidl. Sie hat gleich größer geordert, als sich der Trend abzeichnete. Gut möglich, dass es bis Weihnachten schon wieder vorbei ist mit dem Gummihype. Aber in den Wochen des Ansturms dabei zu sein und die Kunden nicht weiterschicken zu müssen, das ist die große Kunst.

Und das gilt erst recht fürs Kerngeschäft. Wenn ein Buch in einer Besprechung besonders gut weggekommen ist, weiß der findige Händler das besser schon tags darauf. In Zeiten des Internets kann sich die Nachfrage nach einem bestimmten Titel entwickeln wie eine Erkältungswelle. Dann ist es schön, wenn vom Objekt der Begierde sofort ein Stapel mit Exemplaren parat liegt – am besten auch gleich so, dass es quer durch die Abteilung gut zu sehen ist.

Ein junger Vater schaut sich ganz unverbindlich in der Bilderbuchecke um. Der Sohnemann ist erst zweieinhalb, sagt er, und jetzt gilt es wohl langsam, die kindgerechte Hausbibliothek zu verstärken. „Man will ja nicht immer das Gleiche vorlesen.“ Verständlich.

Eine Endsechzigerin, die kurz darauf vor demselben Regal steht, wäre wohl schon froh, wenn ihr jüngster Enkel überhaupt eine Weile zuhören würde. „Er will sich einfach keine Märchen vorlesen lassen“, klagt sie der Verkäuferin ihr Leid. Jetzt ist die Frau auf der Suche nach einem möglichst kurzen und kurzweiligen Text, der den kleinen Verweigerer eventuell doch noch anbeißen lassen könnte. Wenig später zieht die Dame mit einem gerade mal handtellergroßen Büchlein ab. „Der dicke, fette Pfannekuchen“ soll es richten. Hoffentlich bekommt der Kleine da auch wirklich Appetit . . .

Die Episode zeigt, wie sehr sich mancher erwachsene Bücherfreund bei der Auswahl von Literatur für den Nachwuchs von den eigenen Idealen und Wunschvorstellungen leiten lässt. Da ist eine andere Großmutter, die sich als belesenes Mitglied eines VHS-Literaturkreises zu erkennen gibt, vielleicht doch schon ein Stück weiter. Sie hat eine Tochter und gleich drei Enkelinnen im Schlepptau und lässt ihren Lieben völlig freie Hand: Jedes Familienmitglied soll sich nach den eigenen Vorstellungen mit Ferienlektüre eindecken. Alle Jahre mache sie das so, sagt die Frau, und bislang gab es da offenbar keine Beschwerden.

Und auf einmal ist die Abteilung doch gut gefüllt. Eine Kindergartengruppe der Bürgerhilfe ist ausgeschwärmt, um mit zwei Erzieherinnen ein Abschiedsgeschenk für eine andere Betreuerin auszusuchen. „Ich glaube, wir brauchen Verstärkung“, hat der DK-Helfer noch ausgerufen, als er die 17-köpfige Truppe auf der Rolltreppe entdeckt hat. Doch Angelika Steidl hat gelassen abgewunken: Solchen Herausforderungen hat sie sich bislang noch jedes Mal gewachsen gezeigt.

Und in der Tat: Die Buben und Mädchen kommen ganz diszipliniert heran, Hand in Hand in Zweierteams. Vorsichtig wird an den Tischen mit den bunten Kindertiteln sondiert, und endlich kann die Aushilfe aus der DK-Redaktion mal zeigen, dass sie nicht völlig nutzlos in der Gegend herumsteht. Ein Bilderbuch über die Arche Noah wird mit einigen der jungen Besucher angeschaut – und eines über das Fußballspielen. Letzteres ist sogar interaktiv, und wenn man auf bestimmte Knöpfe am Seitenrand drückt, dann pfeift der Schiedsrichter oder eine gezeichnete Zuschauermenge regt sich lautstark über ein Foul auf oder schreit „Tooor!“.

Ja, so etwas ist heutzutage offenbar angesagt, wenn man die Jüngsten auf den Weg der Literatur führen will. Ob sie dann in 20 Jahren bei Thomas Mann und Heinrich Böll enden werden oder doch nur bei den zweiten oder dritten Memoiren von Boris Becker und Dieter Bohlen – wer weiß das schon. Da gibt sicher noch nicht mal Angelika Steidl eine Prognose ab.