Ingolstadt
"Warum verdammt man mich dazu"

Lesung in der Stadtbücherei: Hassan Ali Djan flüchtete vor zehn Jahren nach Deutschland – heute ist er fest integriert

18.03.2015 | Stand 02.12.2020, 21:31 Uhr

Bewegendes Schicksal: Hassan Ali Djan, einst Flüchtling aus Afghanistan, las in der Stadtbücherei - Foto: Brandl

Ingolstadt (DK) Fremdschläferkontrolle – das war das erste Wort in deutscher Sprache, das Hassan Ali Djan nach seiner Ankunft in München gelernt hat. Ein bezeichnendes Beispiel für den sterilen Umgang, den man mit Asylbewerbern in Bayern noch in den 2000er Jahren pflegte, sollte diese Episode aus seinem Leben untersteichen.

Von dieser und anderen berichtet der aus Afghanistan stammende Djan am Dienstagabend in der Stadtbücherei.

Der heute mit seiner Frau in München lebende Elektroniker, der im Jahr 2005 minderjährig und als Analphabet auf der Ladefläche eines Lkw nach Deutschland einreiste, las dort auf Einladung kirchlicher und sozialer Einrichtungen aus seinem kürzlich erschienenen Buch „Afghanistan. München. Ich: Meine Flucht in ein besseres Leben“ vor. Das Wort schnappte er von Wachleuten auf, die, in der Flüchtlingsunterkunft in einem Münchner Industrieviertel, in der Djan lebte, die Zimmer auf illegale Bewohner kontrollierten.

Zu dieser Zeit hatte der damals 16-Jährige eine jahrelange Odyssee hinter sich, die ihn aus seiner vom Krieg zerfetzten Heimat über Pakistan, den Iran (wo er vier Jahre arbeitete, um sich das Geld für die weitere Flucht zu verdienen), die Türkei und Griechenland, schließlich nach München führte.

Heute ist Djan nicht nur auf dem Umschlagbild seines Buches in Bayern angekommen. Dort sitzt er, entspannt mit locker verschränkten Armen, auf der Kante eines Wirtshaustisches. Über ihm an der Wand prangt ein Hirschgeweih, als möchte es sagen: Du gehörst jetzt dazu. Djan hat sich durchgebissen. Lange auf sich allein gestellt. Die gesamte Familie in der Region der afghanischen Hauptstadt Kabul zurückgelassen. Das Besondere an seiner Geschichte: Es waren nicht die Behörden, sondern deutsche Mitbürger, die ihm die Hand ausgestreckt und ihn mitgenommen haben. Die ihm Kultur und Wissen vermittelt, ihn an die Gesellschaft herangeführt haben. Da war zum einen Frau Zopfy, eine ältere, gebildete und gepflegte Erscheinung, die sich dem jungen Mann in der Rolle einer Art Tutorin annimmt. Ihr Name fällt immer wieder während der Lesung. Mit an ihr hängt offenbar ein ganzes Menschenschicksal. Der Fels in der Brandung eines Meers mit unbekannten Kliffen, den Djan im demoralisierenden Lageralltag erklimmt („Warum verdammt man mich dazu“, fragt der Autor, als er von der Zeit zwischen Hoffnung und Verzweiflung, dem Warten auf die Anhörung und die Aufenthaltsgenehmigung erzählt).

Sie treffen sich auf einen Kaffee, sie lädt ihn ein. Er besucht zum ersten Mal eine deutsche Wohnung, ist fasziniert von den vielen Büchern, die Frau Zopfy besitzt. Sie kochen zusammen, er lernt Wörter wie Topf, Pfanne, braten, dünsten und ist glücklich dabei. Sie schauen gemeinsam die 20-Uhr-Nachrichten, weil dies eine Tradition sei, wie das morgendliche Zeitunglesen, klärt ihn Frau Zopfy auf. Sie zeigt ihm Museen und erklärt ihm die soziale Marktwirtschaft. Aber sie fragt auch: nach seiner Familie und seiner Kultur. Sie schenkt ihm sein erstes Buch. „Onkel Toms Hütte“, sagte Djan. Er brauchte ewig für jeden Satz und lernte, was ein Sklave ist und dass die Epoche der Sklaverei auch in der westlichen Welt noch nicht so lange vorüber war.

Ein Jahr dauerte Djans Asylverfahren. Nach einem Abschiebebescheid erhielt er schließlich ein unbefristetes Aufenthaltsrecht und machte die Mittlere Reife. Mit seinem ersten selbstverdienten Geld unterstützte er die sechs Geschwister in der Heimat, die heute zum Teil in Kabul studieren. Mit 300 Euro im Monat konnte er dort viel helfen, sagte er. Jetzt, wo er selbst verheiratet sei, sei das schwieriger. Ein schüchterner Anflug von hiesigem Humor, den das Publikum gerne aufgreift. Auch diesbezüglich ist er also in Deutschland angekommen.

Wie sehr das Thema Asyl die Menschen derzeit bewegt, machte sich an der Besucherzahl der Lesung bemerkbar. Im Dachgeschoss der Stadtbücherei, das, wie immer, einen stimmungsvollen Rahmen für eine Lesung bot, ließen rund 60 Zuhörer nahezu keinen der Plätze unbesetzt.

„Afghanistan. München. Ich: Meine Flucht in eine besseres Leben“ von Hassan Ali Djan, ist erschienen im Verlag Herder, ISBN-13: 978-3451313042.