Ingolstadt
Wahn im Gerichtssaal

Rauschgiftkonsum in der Haftanstalt? Vier Polizisten müssen Angeklagten in Schach halten

29.04.2016 | Stand 02.12.2020, 19:53 Uhr

Ingolstadt (DK) Das gibt es auch bei der Justiz nicht alle Tage: Gleich vier Polizeibeamte mussten am Freitagmorgen am Landgericht einen offenbar unter Drogeneinfluss stehenden randalierenden Angeklagten ruhigstellen. Der junge Mann hatte wahrscheinlich in der Neuburger Justizvollzugsanstalt (JVA) eine unbekannte Substanz geschluckt.

Der Fall des 24-jährigen Ingolstädters, über den der DK in den vergangenen Wochen bereits wiederholt berichtet hat, ist ohnehin bizarr genug: Er soll im Drogenrausch einem Bekannten mit einer Schere ins Auge gestochen haben; dieser Mann ist seither auf dem rechten Auge blind.

Dass der mutmaßliche Täter von seinem langen Drogenkonsum schwer gezeichnet, verhaltensauffällig und auch recht unberechenbar ist, hatte sich bereits an den beiden vorausgegangenen Verhandlungstagen gezeigt. Mit einer Eskalation wie am Freitag war aber nun doch nicht gerechnet worden.

Schon auf der Fahrt von der JVA zum Landgericht muss es morgens zu einem Vorfall mit dem Vorführpersonal der Polizei gekommen sein. Der junge Mann wurde - anders als an den früheren Verhandlungstagen - in Handschellen und Fußfesseln und mit einer kleineren Wunde am Kopf vorgeführt, auf die einer seiner beiden Verteidiger sofort aufmerksam machte.

Auch auf der Anklagebank wurden dem 24-Jährigen die Fesseln von den Beamten nicht abgenommen. Dort verfiel der junge Mann abwechselnd in Lachsalven und Heulkrämpfe; er missachtete Anordnungen von Gericht und Bewachern. Die Polizeieskorte musste auf vier Beamte verstärkt werden, die den aufsässigen Gefangenen schließlich im Gerichtssaal zu Boden werfen und fixieren mussten.

Der herbeigerufene Landgerichtsarzt stellte beim Angeklagten Verhandlungsunfähigkeit fest, weil er offenbar unter Einfluss einer unbekannten Substanz stand. Er selbst hatte auf eine Frage des Vorsitzenden Thomas Denz angegeben, nichts "eingeworfen" zu haben - "ich wurde vergiftet", lautete seine Erklärung für sein obskures Verhalten.

Die 5. Strafkammer vertagte die Verhandlung auf den kommenden Montag. Sie veranlasste nach kurzer nichtöffentlicher Besprechung mit den Anwälten die Einweisung des Angeklagten ins Ingolstädter Klinikum, wo er übers Wochenende entgiftet und/oder beobachtet werden soll. Am Montag will das Gericht versuchen, den ausgefallenen Verhandlungstag nachzuholen.

Nach dem ursprünglichen Zeitplan waren für Freitag die Plädoyers vorgesehen, unter günstigen Umständen wäre eventuell die Urteilsverkündung denkbar gewesen. Wie es nun weitergeht, muss sich zeigen. Möglicherweise muss der Angeklagte auch für längere Zeit in der Psychiatrie untergebracht und der Prozess später neu angesetzt werden.

Wie der wegen gefährlicher Körperverletzung angeklagte junge Mann im Gefängnis an Rauschmittel gelangen konnte, blieb vorerst unklar. Einer seiner Verteidiger merkte auf dem Gerichtsflur an, dass er sich den Vorfall nicht erklären könne, weil sich sein Mandant nach gerade mal zwei Wochen in der JVA Neuburg kaum die für eine Beschaffung nötigen Kontakte erschlossen haben könne.

In Justizvollzugsanstalten werden immer wieder mal Fälle von Drogenkonsum aufgedeckt. Die Dunkelziffer dürfte nach Auffassung von Beobachtern aus der Justiz durchaus beachtlich sein. Die Kanäle, auf denen Drogen eingeschmuggelt werden, dürften über Besucher führen oder auch über Häftlinge, die im offenen Vollzug sind. Einige Strafverfolger fordern hier strengere Kontrollen.

In diesem Fall ist der Angeklagte schon wiederholt durch wahnhafte Eskapaden aufgefallen, die sich bei ihm wohl vor allem nach dem Konsum bzw. der Injektion sogenannter Badesalzlösungen eingestellt haben. Dabei handelt es sich keinesfalls um Hygieneprodukte, sondern nur um den Tarnnamen für vergleichsweise preisgünstige synthetische Drogen, die in Deutschland auf dem Vormarsch sind. Die Substanzen werden in immer neuen Zusammensetzungen in geheimen Untergrundlaboren zusammengemixt und übers Internet vertrieben. Sie können praktisch vom Paketboten ins Haus geliefert werden.

Weil die Hersteller ihre Formeln ständig ändern, sind sie dem Gesetzgeber und damit den Ermittlern meistens einen Schritt voraus: Immer, wenn ein solches Produkt analysiert und auf den Index gesetzt worden ist, wird wieder eine neue Mixtur auf den Markt gebracht.

In diesem Fall hatte der Angeklagte unter Einfluss von Badesalz bereits einen schweren Unfall erlitten. In der wahnhaften Vorstellung, besonders geschickt und "unverwundbar" zu sein, hatte er sich vor Zeiten mit einem Gürtel über ein Kabel zwischen zwei Häusern gleiten lassen. Dabei war er aus zehn Metern Höhe abgestürzt und hatte sich schwere Rückenverletzungen zugezogen. An den Spätfolgen, so ein Gutachter, werde der Mann sein Leben lang zu leiden haben.