Ingolstadt
Vorweihnacht der guten Herzen: Ohne Worte

Im Gehörlosenverein geht es jede Woche gestenreich um die neuesten Nachrichten

27.11.2015 | Stand 02.12.2020, 20:29 Uhr

Diskussion in Gebärdensprache: Augustin Pinilla (ganz links) spricht mit Ronja Kunze (rechts) über Terror in Paris. Birgit Fehn (von links), Ecaterina Schneider und Martin Hollweck verfolgen die Debatte. - Foto: Hauser

Ingolstadt (DK) Ob an der Supermarktkasse oder im Autoradio: Die meisten Menschen schnappen im Minutentakt Nachrichten über das Weltgeschehen auf. Menschen, die nicht hören können, haben es sehr viel schwerer. Der Gehörlosenverein hilft mit einer wöchentlichen Diskussionsrunde.

Wenn Birgit Fehn am Frühstückstisch den DONAUKURIER zur Hand nimmt, legt sie ihr Handy gleich daneben. Sobald in einem Artikel ein Wort auftaucht, das sie nicht versteht, sucht sie im Internet danach. „Aber wenn Google eine Bedeutung ausspuckt, bin ich manchmal so schlau wie vorher“, sagt die gelernte Grafikerin kopfschüttelnd. Jeden Montag geht die Ingolstädterin deswegen in die Räume des Gehörlosenvereins Ingolstadt und Umgebung mit Sportabteilung (GVIUS) an der Permoserstraße. Der Verein, der sich zum größten Teil aus Spenden finanziert, hat ganz unterschiedliche Angebote für Schwerhörige und Gehörlose. Montags treffen sich Menschen, die auf Gebärdensprache das aktuelle Tagesgeschehen diskutieren möchten. Auch Birgit Fehn ist gehörlos, seit sie mit sechs Monaten an Keuchhusten erkrankt war. Seit zwei Jahren ist sie in der Diskussionsgruppe dabei.

Eine Gebärde wird an diesem Nachmittag besonders häufig verwendet: Mit Zeige- und Mittelfingern formen die vier Erwachsenen am Tisch einen kleinen Eiffelturm – in der Gebärdensprache das Zeichen für Paris. Engagiert diskutieren die Teilnehmer über die Anschläge in Frankreich. Im Raum ist es bis auf gelegentliche Schnalzlaute still, obwohl häufig mehrere gleichzeitig reden, das heißt gestikulieren. Ronja Kunze, Beraterin des Gehörlosenvereins und einzige Hörende in der Gruppe, erzählt erst einmal, was in Paris passiert ist. Immer wieder formen ihre Finger kleine Explosionen: Sie spricht von Bomben und Schüssen.

Gebannt folgen die Augen der Anderen ihren Händen. „Gehörlose sind grundsätzlich unterversorgt an Informationen“, hat Ronja Kunze vor Diskussionsbeginn erklärt. Zum einen ist es für sie schwierig, die deutsche Schriftsprache zu lernen – hörende Kinder lernen die Buchstaben schließlich beim Sprechen. Beim Zeitunglesen scheitern viele Gehörlose dann immer wieder an verschachtelten Sätzen und komplizierten Wörtern. „Im Allgemeinwissen gibt es oft viele Lücken“, hat Kunze außerdem beobachtet. Wer auf die Gebärdensprache angewiesen ist, hat nicht viele Möglichkeiten, an Informationen zu gelangen.

„Was haben die Anschläge mit den Flüchtlingen zu tun“, will einer der Männer jetzt wissen. „Und warum wollen die alle nach Deutschland“ Birgit Fehn zupft ihn am Ärmel, damit er sie anschaut. Mit ihren Fingern malt sie sich hängende Mundwinkel ins Gesicht – die Geste für die Bundeskanzlerin. „Die kommen, weil alle die Merkel so lieben“, übersetzt Ronja Kunze den kleinen Scherz.

Der Parteitag der CSU, der VW-Skandal, das vergangene Spiel des FC Ingolstadt: Thematisch geht es in der Gruppe um alles, was aktuell ist. In der Mitte liegt der DONAUKURIER und wird Seite um Seite durchgeblättert. Wichtige Artikel werden ausgeschnitten und an den Flipchart gepappt.

Unter dem Holztisch spielen zwei Kinder: Die vierjährige Milena und der anderthalbjährige Timo sind mit ihrer Mutter Ecaterina Schneider hier und ebenfalls gehörlos. Milena hängt sich an die Gardine und bekommt prompt eine saftige Strafpredigt von der Mama. Weil das Ganze geräuschlos vor sich geht, läuft die Diskussion ungehindert weiter – auch mit Gesten kann man allerdings ordentlich schimpfen.