Ingolstadt
Vom Kampf gegen Wut, Angst und Scham

Das wirklich Schlimme am Stottern sind nicht die äußeren Symptome, sondern die inneren

21.10.2014 | Stand 02.12.2020, 22:05 Uhr

20 Jahre lang hat er gestottert, heute hat er seine Sprache im Griff: Helmut Aicher. - Foto: Ammer

Ingolstadt (DK) Er spricht einen Tick langsamer, als man es gewohnt ist, macht ein, zwei Pausen mehr im Satz – doch wer nicht darauf achtet, dem fällt das nicht auf. Was das Gegenüber nicht weiß: wie viel Willenskraft hinter seinen Sätzen steckt. Helmut Aicher ist Stotterer. 20 Jahre lang hat die Sprachstörung sein Leben bestimmt – nun hat er den Spieß umgedreht.

Heute ist Welttag des Stotterns – ein Tag, an dem Betroffene vielerorts für Toleranz werben. So auch in Ingolstadt (siehe Kasten). Noch immer sind die Vorurteile groß. „Viele wissen nicht, wie sie damit umgehen sollen, auch innerhalb der Familie ist es häufig ein Tabuthema“, sagt Helmut Aicher. Dabei sei gerade hier die Unterstützung so wichtig. Hauptsache keine gut gemeinten Ratschläge: „Viele raten einem, langsamer zu sprechen und vorher darüber nachzudenken, was man denn sagen will – ein Stotterer spricht von Haus aus schon langsamer und denkt zehnmal über jeden Satz nach, scannt ihn auf Worte, an denen er hängen bleiben könnte“, sagte der gelernte Lagerist. Für ihn sind Worte mit „Wl“ oder mit einem „R“ und einem „L“ am schwierigsten. Doch das ist unterschiedlich: „Jeder Mensch ist anders, jedes Stottern ist anders.“

Helmut Aicher stottert, seit er elf Jahre alt ist. „Ich musste mich in der fünften Klasse vorstellen und habe bei einem Wort heftig gestottert, seitdem ist es da.“ Heute ist er 31. Während der Schulzeit sei es besonders schlimm gewesen, gerade wenn andere gelacht haben. Stottern ist eine Veranlagung, direkt vererbt wird es nicht.

Wer Helmut Aicher früher gegenüberstand, nahm die Sprechstörung wahr: Die Wiederholung von Lauten, Silben und Verkrampfen. Doch das sind nur die hör- und sichtbaren Symptome. Das wirklich Schlimme am Stottern bleibt verborgen: „Die Angst, im Leben zu scheitern, weil man nicht mal einen vernünftigen Satz zu Ende sprechen kann“, sagt Helmut Aicher. Wut, Scham und Angst – das alles verbindet sich zu einem Teufelskreis, der das Leben des Stotterers bestimmt. „Man weiß nie, wann es passiert, meidet Situationen, schreibt eine E-Mail, statt zu telefonieren, sucht lieber zehn Minuten nach etwas im Supermarkt, statt zu fragen“, erzählt Helmut Aicher.

Seit fast drei Jahren gibt es in Ingolstadt inzwischen eine Selbsthilfegruppe für Stotterer. Der Film „The King’s Speach“ über den stotternden britischen König George VI. – und seine Therapie – war der Auslöser, dass sich Betroffene zusammengetan haben. George war übrigens nicht der einzige prominente Stotterer: Auch Bruce Willis, der Graf von der Band Unheilig, Hamit Altintop und Rowan Atkinson alias Mr. Bean stottern oder haben einmal gestottert.

Helmut Aicher ist eines der Gründungsmitglieder der Ingolstädter Selbsthilfegruppe. „Es ist gut, sich darüber auszutauschen, aber viele trauen sich nicht, zu kommen“, sagt er. Zusammen mit anderen Stotterern hält er heute einen Vortrag an der Ingolstädter Logopädieschule und diskutiert mit den Schülern über die Therapie.

Noch vor einem Jahr wäre das unvorstellbar für ihn gewesen. Geholfen hat ihm die Bonner Stottertherapie – zehn Wochen Intensivkurs, verteilt auf ein Jahr. „Früher habe ich ständig Wörter umgetauscht, für jedes Wort hatte ich noch drei andere“, erzählt Helmut Aicher. Trotzdem konnte er schon mal eine halbe Minute brauchen, um ein Wort herauszubringen. „Und dann für das übernächste gleich wieder, weil man verkrampft ist.“

Die Bonner Therapie setzt bei der Angst an. „Ich musste zum Beispiel ein Telefonat führen – und nach dem Auflegen gleich das nächste und das nächste“, erzählt Helmut Aicher. Dann lernte er die Modifikationstechnik: „Keine Wörter vermeiden, lange Dehnungen, Pausen vor Wörtern.“ Die Grundlage ist ein offener Umgang mit dem Stottern. So hat er seine Sprache über das Jahr hinweg unter Kontrolle gebracht.

Heute geht Helmut Aicher ins Restaurant und bestellt sich ein Radler, auch wenn er weiß, dass er das Wort gleich nicht rauskriegen wird. Die Scham ist weg. Im Supermarkt sucht er nicht mehr ewig, er fragt. Die Angst ist weg. Und statt eine E-Mail zu schicken, ruft er einfach an.