Ingolstadt
Unvorbereitet in die Freiheit

Der psychisch kranke Täter wurde zuletzt nur ambulant betreut – zu stationärer Behandlung konnte ihn keiner zwingen

20.08.2013 | Stand 02.12.2020, 23:46 Uhr

Rettungskräfte kurz nach dem Zugriff: Bei der Geiselbefreiung streckte die Polizei den Täter mit zwei Schüssen nieder. Er liegt jetzt im Klinikum. Der psychisch kranke 24-Jährige hatte sich nach dem Ende seiner Unterbringung vor drei Wochen gegen vielfachen Rat nicht freiwillig stationär behandeln lassen. - Foto: Rehberger

Ingolstadt (DK) Nach der Geiselnahme am Montag im Alten Rathaus rückt auch das Gerichtsverfahren wieder in den Fokus. Vor drei Wochen ist der 24-Jährige am Ingolstädter Landgericht zu einer Bewährungsstrafe von einem Jahr und acht Monaten verurteilt worden.

Eine wichtige Rolle spielte in dem Prozess ein Gutachten eines Münchner Psychologen - daraufhin hätte sich das Gericht letztlich zu einer Bewährungsstrafe entschieden, so der Anwalt des mutmaßlichen Geiselnehmers. Auf die Freiheit sei sein Mandant unvorbereitet gewesen.
 
Der 24-Jährige ist vor einem Jahr verhaftet worden, als er wiederholt gegen ein Kontaktverbot verstoßen hatte. Bis März war er im psychiatrischen Klinikum München-Ost (dem ehemaligen Bezirksklinikum Haar) untergebracht. Weil er dort immensen Ärger provozierte – unter anderem terrorisierte er ein traumatisiertes Opfer der Nationalsozialisten –, kam er in die psychiatrische Abteilung der JVA Straubing; auch dort machte er Schwierigkeiten. Das berichteten verschiedene Psychologen während des Prozesses im Juni und Juli.

Dennoch attestierte ihm ein Gutachter in der Verhandlung keine Gefährlichkeit: „Ich würde jetzt nicht davon ausgehen, dass er der Typ Stalker ist, der dann gewalttätig wird“, sagte der Münchner Psychologe. Das war die Voraussetzung dafür, ihn zu einer Bewährungsstrafe zu verurteilen; die Unterbringung in einer psychiatrischen Klinik war damit vom Tisch. Der Vorsitzende Richter Paul Weingartner hatte das Urteil am 29. Juli verkündet. Als der 24-Jährige vorgestern ins Alte Rathaus stürmte und vier Geiseln nahm, war er gerade seit drei Wochen wieder in Freiheit.

Zu den Bewährungsauflagen für den Mann gehörte eine ambulante Therapie. Die leistet die forensische Ambulanz aus Haar in den Räumen der Ingolstädter Bewährungshilfe. Die Experten kümmern sich vor allem um die Versorgung mit Medikamenten. Das war es dann aber offenbar im Wesentlichen mit der Betreuung des nachgewiesen psychisch Kranken.

„Uns war allen klar, dass er auf die Freiheit sehr unvorbereitet war, und dass das hochproblematisch ist“, sagt Jörg Gragert, der den Obdachlosen in dem Prozess wegen Nachstellens (Stalking) vertreten hat und jetzt auch nach der Geiselnahme im Rathaus dessen Verteidigung übernimmt. „Aber es war eben so, dass der entscheidende Gutachter am vorletzten Verhandlungstag umgeschwenkt ist und keine Gefährlichkeit meines Mandanten festgestellt hat, die eine der Voraussetzungen dafür gewesen wäre, ihn nach Paragraf 63 Strafgesetzbuch in einer psychiatrischen Klinik unterzubringen“, erklärt der Anwalt.

Auch für Oberstaatsanwalt Günter Mayerhöfer war diese Einschätzung des Münchner Psychiaters bedeutend: „Diese Ursprungsvorstellung ,Da drüben sitzt das böse Monster’ muss man revidieren“, sagte er noch vor Gericht. Dennoch war für den Juristen klar: „Für die Allgemeinheit und auch für Sie wäre es besser, wenn Sie sich in stationäre Behandlung begeben. Aber ich weiß, dass Sie das nicht wollen, und rechtlich können wir es nicht erzwingen.“ Es gibt bisher keine Hinweise darauf, dass sich der Verurteilte über die Bewährungsauflage hinaus in einer Fachklinik in psychiatrische Behandlung begeben hat.

Der Psychiater aus München hielt den 24-Jährigen letztlich nicht für gefährlich, wie er am vorletzten Verhandlungstag erläuterte. „Damit war es zwingend, ihn entweder zu einer Freiheits- oder zu einer Bewährungsstrafe zu verurteilen“, sagt Gragert. Das Gericht sei zu dem Schluss gekommen, dass eine Bewährung angemessen sei, „weil er noch keine nennenswerten Vorstrafen hatte“.

Der Strafverteidiger widerspricht damit einer Äußerung OB Alfred Lehmanns, der am Montag die Gefährlichkeit des 24-Jährigen in der Vergangenheit hervorgehoben hatte. So berichtete der OB von „mehreren Körperverletzungsdelikten“, für die sich der junge Mann bereits verantworten musste. Gragert hält dem entgegen: „Ja, es gab diverse Delikte im Urteil vom 29. Juli, aber es ist nicht so, dass mein Mandant zuvor eine Strafe nach der anderen angehäuft hat.“ Genau das habe das Landgericht mit seinem Urteil dann auch bestätigt.

Der Münchner Gutachter ist inzwischen nicht mehr zu sprechen. Da nun erneut ein Verfahren gegen den 24-Jährigen läuft, darf sich der Psychologe nicht mehr zu seinen Einschätzungen und seinem Gutachten äußern.