Ingolstadt
"Streikzeit ist Fernbuszeit"

Vom Streik Betroffene weichen auf Fernbusse aus – Demnächst auch Postbus-Haltestelle

20.05.2015 | Stand 02.12.2020, 21:16 Uhr

Begehrte Plätze im grünen Bus: Reisende steigen an der Fernbus-Haltestelle am Hauptbahnhof zu. In Zeiten der Bahnstreiks haben Fernbusse Hochkonjunktur. - Foto: Hauser

Ingolstadt (DK) Der giftgrüne Fernbus fährt mit leichter Verspätung am Hauptbahnhof ein. Sofort stürmen die wartenden Reisenden auf den Bus zu und wollen ihr Gepäck verstauen. Unter ihnen ist auch die Ingolstädterin Christine Kellner, die ihre Schwester Brigitte mit deren Ehemann, die aus der Schweiz zu Besuch in Ingolstadt waren, zum Bahnhof begleitet. „Mein Enkel hat im Internet für uns recherchiert, wann ein Bus kommt, damit unsere Gäste unabhängig vom Lokführerstreik nach Erlangen fahren können“, sagt die 80-Jährige. Kellner und ihre Schwester kaufen beim Busfahrer ein Ticket. Nachdem sie bezahlt haben, zeigt das Smartphone des Busfahrers, mit dem die digitalen Tickets erstellt werden, jedoch an, dass keine Plätze mehr frei sind. Die Rentner sind sichtlich verwirrt, die Verständigung mit dem Busfahrer, der wenig Deutsch spricht, fällt schwer. Kellner hofft, dass im nächsten Bus, der in gut einer halben Stunde einfährt und direkt in Erlangen hält, Plätze frei sind. Ansonsten wollen ihre Besucher den Zug nehmen – wenn der denn kommt.

Auch Jürgen Seidel wartet am Bussteig auf den nächsten Fernbus, der nach dem Halt in Erlangen Richtung Berlin weiterfährt. Er hat schon lange im Voraus ein Ticket im Internet gebucht. „Das hat doch gar keinen Zweck mehr, mit der Bahn zu fahren“, sagt Seidel. Er trifft sich mit seiner Tochter und seinem Enkelkind in Berlin. Von dort aus soll es weiter an die Nordsee gehen. Voraussichtlich mit dem Zug. Oder vielleicht auch mit dem Bus.

Ein Berliner Fernbusanbieter hat die Streiks der Lokführer für sich ausgenutzt und eine Fahrkartenkooperation mit der Deutschen Bahn initiiert: Der Anbieter Berlinlinienbus akzeptiert Bahntickets als gültige Fahrscheine für alle noch verfügbaren Sitzplätze. Wenn die gebuchte Zugverbindung mit der Strecke des Fernbusses übereinstimmt, werden die Fahrkarten in allen Fernbussen oder an den Vorverkaufsstellen kostenlos anerkannt, wie man auf den Seiten des Unternehmens erfährt. Das gilt auch für den neunten Streik, der gestern begonnen hat. Wie das Unternehmen berichtet, versechsfachte sich die Zahl der Zugriffe auf die Homepage, der Umsatz der Online-Tickets stieg um über 300 Prozent im Vergleich zur streikfreien Zeit.

Seit der Liberalisierung des deutschen Fernbusverkehrs Anfang des Jahres 2013 versuchen Fernbusunternehmen, Gelegenheitsreisende und Pendler mit Tiefpreisen und Sparangeboten zu locken. Mit großem Erfolg. In Zeiten der Bahnstreiks profitieren die Fernbusunternehmen zusätzlich – „Streikzeit ist Fernbuszeit“ liest man auf der Homepage eines der Fernbusriesen, der sich vor Kurzem mit einem Konkurrenten zusammengeschlossen hat. Das Unternehmen teilte beim vergangenen achten Streik Anfang Mai mit, dass die Buchungen ab dem Zeitpunkt, als bekannt wurde, wann gestreikt werden wird, zeitweise um 150 Prozent angestiegen seien. Außerdem werde die Homepage des Unternehmens rund fünfmal häufiger aufgerufen. Firmenangaben zufolge weitet MeinFernbus FlixBus angesichts der neuen Streikankündigungen das Angebot über das Pfingstwochenende aus, da mit doppelt so vielen Buchungen wie üblich gerechnet wird.

Die grünen Busse machen mehrere Male täglich am Hauptbahnhof Halt und bringen die Reisenden von der Schanz aus zu 23 Zielen in ganz Deutschland. Der Berliner Anbieter kommt auf seiner Route Berlin-München einmal vormittags und einmal nachmittags in Ingolstadt vorbei, bedient aber nur einmal am Tag die Verbindung Ingolstadt – München. Ab voraussichtlich 29. Mai halten dann auch die gelben Postbusse am Nordbahnhof. Schrittweise soll das Angebot zu einem dichten Liniennetz ausgebaut werden. So könnte Jürgen Seidel dann von Ingolstadt bis an die Nordsee kommen.