Ingolstadt
Stimmen aus der Vergangenheit

Die Auschwitz-Gedenkstunde im Reuchlin-Gymnasium ruft den Lageralltag der Insassen in Erinnerung

27.01.2016 | Stand 02.12.2020, 20:16 Uhr

Von grauenvollen Zuständen im Konzentrationslager Auschwitz berichteten die Schüler der 11. und 12. Klasse in ihrer 24-stündigen Lesung, die auf Originaldokumenten beruht.

Ingolstadt (DK) Die Protokolle von Zeitzeugen standen gestern im Mittelpunkt der städtischen Gedenkveranstaltung für die Opfer des Nationalsozialismus, die heuer das Reuchlin-Gymnasium organisiert hatte. Mit Musik und Ausschnitten aus Gerichtsprozessen erinnerten die Schüler an Terror und Angst.

Entsetzt verziehen einige Fünftklässler im Publikum das Gesicht. Das, was auf der Bühne gelesen wird, ist auch für Ältere krass und kaum zu ertragen. In sachlicher Stimme berichten sechs Schüler aus dem Lageralltag in Auschwitz. Von dem Aussortieren von Menschenleben auf der Rampe. Von getrennten Familien und vergasten Verwandten. Von Lumpensuppe und grausamen Krankheiten. Die Schüler auf der Bühne, Jungen wie Mädchen, tragen schwarze Anzüge mit Krawatte, die Lippen sind rot geschminkt. So verkleidet halten sie Distanz zu dem Horror, von dem sie erzählen. Der Text stammt aus dem Drama "Die Ermittlung" von Peter Weiss, das auf dem ersten Auschwitzprozess Anfang der 1960er-Jahre in Frankfurt beruht. 24 Stunden lang lesen die 14 Schüler des Wahlkurses Theater und Film das Stück am Mittwoch vor, organisiert von Lehrer Christian Albert.

Anlass ist der Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus. Eingebettet in die Lesung ist die offizielle Gedenkstunde der Stadt, zu der neben mehreren Stadträten Alt-Oberbürgermeister Peter Schnell und Kulturreferent Gabriel Engert gekommen sind. Es sind 60 bedrückende Minuten, ebenfalls vorrangig von Schülern gestaltet. Einige spielen und singen jüdische Lieder. Mehrere Elftklässler stellen die Holocaustüberlebende Bronia Sonnenschein vor, die vor einigen Jahren in ihrer neuen Heimat Kanada gestorben ist.

"Es geht heute nicht mehr um Schuld, sondern um die Verantwortung, die wir für unsere gesamte Geschichte und Zukunft tragen", sagt Kulturreferent Engert in seiner Ansprache. Es sei wichtig, an das Geschehene zu erinnern, gerade weil es auch heute Tendenzen zur Radikalisierung gäbe. Aus der deutschen Geschichte könnten wir lernen, uns nicht von Stimmungsmachern leiten zu lassen, betont er.

"Die Schule ist die Institution, die auf die Zukunft ausgerichtet ist", sagt auch Schulleiterin Edith Philipp-Rasch. Man müsse die Erinnerung wachhalten, damit so etwas wie in Auschwitz nie wieder passiere.

Dass die Aufarbeitung noch nicht abgeschlossen ist, zeigen mehrere Neuntklässler, die Ausschnitte aus dem jüngsten Auschwitzprozess vorlesen, den das Lüneburger Landgericht 2015 verhandelte. Auf Beihilfe zum Mord in 300 000 Fällen lautete die Anklage gegen Oskar Gröning, der in Auschwitz als SS-Mann stationiert war. Am Ende der Gedenkfeier gehen die Stimmen zu seinem Schuldspruch wieder in den Frankfurter Prozess über. Die Grenzen zwischen den beiden Prozessen, zwischen gestern und heute, zwischen Lesung und Gedenkstunde verwischen.

"Es war normal, dass zu allen Seiten gestorben wurde", sagt eine ehemalige Lagerinsassin. Sie habe stets auf der Lauer gelegen, wenn ein Mithäftling mit besserem Schlafplatz im Sterben lag. "Befehle mussten ausgeführt werden", verteidigt sich ein Angeklagter. Ein Zeuge sagt, zu den Krematorien: "Ich dachte, das sind die Bäckereien. Ich hatte gehört, da wird Tag und Nacht Brot gebacken."

Während die Theaterschüler mit ihrer grausigen Lesung fortfahren, gehen einige Gäste zum Ausgang, andere bleiben sitzen. Mit dem Ende der Gedenkstunde ist erst die Hälfte der 24-Stunden-Performance geschafft. Mit Energydrinks und Kaffee halten sich die Schüler wach, kämpfen gegen Kopfschmerzen und Sekundenschlaf. "Das Problem ist, dass man sich das Gelesene bildlich vorstellt", sagt der 17-jährige Oliver Mößmer. "Es hat etwas Absurdes an sich, wie aus einem schlechten Film", ergänzt die 17-jährige Jana Flügel. Ihr größter Fehler sei es gewesen, die Gesichter der Täter im Internet zu suchen, sagen die Schüler. Der 18-jährige Josef Demling ist immer noch schockiert, dass der Kriegsverbrecher Josef Mengele doch eigentlich sympathisch aussah.