Ingolstadt
Soja statt Heimat

Die Lage der Ureinwohner Südamerikas ist vielerorts katastrophal – doch es gibt auch Grund zur Hoffnung

10.01.2013 | Stand 03.12.2020, 0:37 Uhr

Ingolstadt (DK) In Argentinien wurde ein Indianerjunge vom Volk der Qom zu Tode geprügelt. Sein kleiner Körper war von den Schlägen so entstellt, dass seine Mutter ihn zunächst nicht identifizieren konnte. Kein Einzelfall: Die Situation der Ureinwohner in Südamerika ist furchtbar.

In den meisten Staaten, wie in Argentinien und Brasilien, bilden die indigenen Völker nur eine Minderheit, sie leben überwiegend in Armut. In Ecuador, Bolivien und Peru haben sie jedoch einen wesentlichen Anteil an der Bevölkerung. Insgesamt stellen sie knapp zehn Prozent der Gesamtbevölkerung Lateinamerikas. Jedes der indigenen Völker hat seine eigene Geschichte und Kultur, weshalb sie sich nur schwer vereinheitlichen lassen.

Ihre Ausgrenzung in einer von Nachfahren der europäischen Kolonialisten dominierten Gesellschaft lässt sich an vielen Beispielen verdeutlichen: Sie haben nicht den gleichen Zugang zu Bildung und Arbeit wie die Weißen und auch das Gesundheitssystem bleibt ihnen weitgehend verschlossen. Ihre angestammten Territorien werden nicht anerkannt und die Ausbeutung ihrer natürlichen Ressourcen entzieht ihnen ihre materiellen und kulturellen Existenzgrundlagen.

In Argentinien beispielsweise werden vor allem im Norden Wälder und Steppen in Felder für den Sojaanbau umgewandelt. Die Ureinwohner werden vertrieben. Großgrundbesitzer gehen oft im Einvernehmen mit den lokalen Behörden mit Gewalt gegen sie vor.

Südamerika gehört zu den Hauptanbaugebieten von Soja. Der so genannte Sojagürtel umfasst Teile von Brasilien, Argentinien, Paraguay, Bolivien und Uruguay. Allein Brasilien ist für ein Viertel der weltweiten Produktion verantwortlich. Von dem Geschäft profitieren jedoch fast ausschließlich internationale Großunternehmen. Auf dem Weg von Süden nach Norden vernichtete der Sojaanbau die Savanne Cerrado zu großen Teilen. Die ist etwa sechsmal so groß wie Deutschland. Wo Mitte des 20. Jahrhunderts noch 50 indigene Gruppen lebten, kann man heute so weit das Auge reicht Soja sehen. Die Völker des Amazonas, wo das Abholzen des Urwalds rasch fortschreitet, sind ebenfalls einer massiven Vertreibung ausgesetzt.

Die Probleme beschränken sich nicht nur auf den Sojagürtel: In Chile steckten unlängst Unbekannte eine Schule der Mapuche-Indianer in Brand. Die Gesellschaft für bedrohte Völker (GfbV) zeigte sich besorgt über die angespannte Situation: „Die chilenische Regierung sollte endlich zu einem offenen und ehrlichen Dialog mit den Mapuche übergehen.“ Menschenrechtler warnen eindringlich vor einer Eskalation der Gewalt in den betroffenen Gebieten. Die Ureinwohner Chiles verlangen die Rückgabe von mindestens 700 000 Hektar Land, das sie durch eine Landreform unter Präsident Salvador Allende (1970–73) erhalten hatten, die jedoch unter der Diktatur von Augusto Pinochet rückgängig gemacht worden war. Sie protestieren seit Jahren gegen die Ausbeutung von Rohstoffen in ihren Stammesgebieten.

Doch es gibt Anlass zu leiser Hoffnung: In vielen Ländern gewannen die Ureinwohner in den vergangenen Jahren politisch an Selbstbewusstsein. Sie haben begriffen, dass sie sich organisieren müssen, um ihre Rechte durchzusetzen. Erste Erfolge dieser Entwicklung können die Indigenen bereits verbuchen: Die Vereinten Nationen haben viele ihrer Forderungen offiziell anerkannt. Die steigende Aufmerksamkeit führte in der Folge auch zu einer Beachtung ihrer Rechte in einigen Ländern Lateinamerikas, was aber jedoch noch lange keine faktische Umsetzung bedeutet: Die bleibt nach wie vor unzulänglich. In Ländern wie in Kolumbien und Nicaragua wird den Ureinwohnern zwar rechtlich die Selbstbestimmung über ihre Gebiete zugestanden. Allerdings wird überall eingeschränkt, dass die Verfügungsgewalt über die Bodenschätze beim Staat bleibt. So kommt es nach wie vor zu tiefgreifenden Konflikten zwischen indigenen Völkern und dem Staat, Siedlern und Unternehmen, die die Ausübung der Autonomie entscheidend beeinträchtigen: Erdöl in Ecuador, Kohle in Kolumbien, Drogenanbau beziehungsweise Drogenbekämpfung in Peru, Kolumbien und Bolivien sowie Gold in Brasilien und Ecuador sind nur einige Beispiele für Konflikte um Ressourcen.

Bis heute hat es nur ein einziger Indigener an die Spitze eines lateinamerikanischen Staates geschafft: Seit 2006 ist Evo Morales Präsident Boliviens. Er gehört wie nahezu alle politisch aktiven Ureinwohner einer sozialistischen Partei an.

Inzwischen nahm die argentinische Polizei einen Angehörigen einer örtlichen Grundbesitzerfamilie wegen Verdacht auf Mord an dem zwölfjährigen Jungen der Qom fest. Es ist das zweite tödliche Gewaltverbrechen gegen Mitglieder der Qom in den vergangenen Wochen. Am 10. Dezember überfuhr ein Polizist mutmaßlich mit Vorsatz eine 49-jährige Frau und ihre zehn Monate alte Enkelin in der Provinz Formosa.