Ingolstadt
"So unsicher wie jetzt war es noch nie"

Hobbymaler und Malermeister Wilhelm Hierl feiert 100. Geburtstag und ist politisch interessiert wie eh und je

23.02.2017 | Stand 02.12.2020, 18:36 Uhr

Die größte Freude hatte Wilhelm Hierl zehn Wochen vor seinem 100. Geburtstag - bei der Geburt von Urenkelin Leonie. Mit den Beinen will es heute nicht mehr so klappen. Ansonsten würde er wohl immer noch in die Berge fahren. Früher, Wilhelm Hierl war um die 20, hat er auf einem Felsen sogar einen Handstand gemacht (Foto rechts). - Fotos: Hammer/Privat

Ingolstadt (DK) Seine Geburtstagstorte ist ein Kunstwerk für sich. Pinsel und Malerpalette sind aus Marzipan. Gerade richtig für einen passionierten Hobbymaler, dessen Wohnung mit selbst gefertigten Bildern bestens bestückt ist. Gestern feierte Wilhelm Hierl im Kreise seiner Familie 100. Geburtstag.

Dass sein Hundertster ausgerechnet auf Weiberfasching fällt, passt irgendwie ins Bild. Denn Frauen sind in der Familie Wilhelm Hierls an diesem Tag eindeutig in der Mehrheit: Tochter Birgit Henkel mit ihrem Mann, Enkelin Bettina Henkel, Urenkelin Leonie (zehn Wochen) und Hund Quattro, ein Havaneser, der nach dem Audi-Allrad-Modell benannt ist, sind die ersten Gratulanten. Ministerpräsident Horst Seehofer schickt Grüße aus der Landeshauptstadt und die Patrona Bavariae als Silbermedaille, Oberbürgermeister Christian Lösel kommt persönlich zum Gratulieren und unterhält sich mit dem Jubilar über alte Zeiten und die Entwicklung der Stadt. Als Wilhelm Hierl, der in Untermettenbach in der Hallertau geboren ist, mit neun Jahren nach Ingolstadt kommt, hat die Stadt gerade mal 22 000 Einwohner. Heute sind es rund 130 000.

Mit den Beinen will es leider nicht mehr so klappen. Die Stufen zu seiner direkt neben der seiner Tochter liegenden Wohnung im Nordosten der Stadt bewältigt Wilhelm Hierl mit einem Treppenlift. "Ich hab' Arthrose, kann kaum mehr stehen und brauche einen Rollator", sagt Hierl. Mithilfe der Tochter und eines Pflegedienstes kann er den Alltag aber noch gut bewältigen. Geistig jedenfalls ist der Hundertjährige topfit. Würden seine Füße noch funktionieren wie sein Kopf, würde er wohl immer noch in die Berge zum Klettern gehen. So wie damals, Wilhelm Hierl war um die 20, als er beim Bergsteigen auf einem Felsen einen Handstand macht. Die Szene ist auf einem Foto festgehalten. Es hängt in Hierls Wohnzimmer - wie viele selbst gemalte Bilder.

Schon der Treppenaufgang zeigt ein Potpourri seines künstlerischen Schaffens. Szenen aus Ingolstadt, aber auch Stillleben und Zeichnungen. Ein Bühnenbild von einer Vorlage, die er vor 40 Jahren gemalt hat, hängt noch heute beim Trachtenverein Lenting. Im Schlafzimmer über dem Bett wird das von ihm nachgemalte Werk Michelangelos "Die Erschaffung Adams", ein Ausschnitt aus dem Deckenfresko in der Sixtinischen Kapelle, zum Blickfang. Einen Unterschied gibt es zum Original doch: "Bei mir ist die Berührung der Hände ganz", sagt Hierl. Und betont: Das Bild sei noch nicht ganz fertig.

Die Malerei hat Wilhelm Hierl immer fasziniert. Er hat sie deshalb auch zum Beruf gemacht. Wilhelm Hierl ist Malermeister. Seine Ausbildung macht er bei der Standortverwaltung. Nach der Militärzeit im Zweiten Weltkrieg lebt er mit seiner von dort stammenden Frau zehn Jahre in Ilmendorf. 1959 zieht er mit seiner Erna, die vor 16 Jahren starb, nach Ingolstadt.

Als 1918 der Erste Weltkrieg zu Ende geht, ist Wilhelm Hierl ein Jahr alt. Den Zweiten Weltkrieg erlebt er als Soldat an der Front. Hierl ist Funker bei den Luftnachrichten. Er wird in Russland, Afrika, Frankreich und Polen eingesetzt. Die schrecklichen Bilder verfolgen ihn noch immer. Vor allem vor dem Einschlafen: "Manchmal träume ich davon."

Was ist die beste Zeit, die der Hundertjährige erlebt hat? Das sei die Nachkriegszeit gewesen, sagt er. Vor allem die 1950er- und 1960er-Jahre. Und heute, in Zeiten des IS-Terrors und eines Amerikanischen Präsidenten Donald Trump? Wilhelm Hierl denkt nicht lange nach: "So unsicher wie jetzt war es noch nie", sagt der Mann, der in seinem Leben wirklich allerhand erlebt hat.