Ingolstadt
Schrecken aus der Schublade

Sonderausstellung im Reduit Tilly zeigt schonungslose Grafiken und Plaketten aus dem Ersten Weltkrieg

27.03.2015 | Stand 02.12.2020, 21:29 Uhr

Düstere Werkschau: In der neuen Dauerausstellung zum Ersten Weltkrieg sind kleinformatige Grafiken, Plaketten und Plastiken von Künstlern zu sehen, die das Grauen der Fronterlebnisse zeigen. - Fotos: Rössle

Ingolstadt (DK) Auf den ersten Blick sieht er aus wie ein Leichtathlet: Elegante Körperspannung, den Blick hoch konzentriert auf das Ziel gerichtet, bereit, kräftig auszuholen. Tritt der Betrachter aber näher – und das ist bei der kleinformatigen Grafik nötig –, weicht der sportliche Eindruck der schwarzen Figur dem Schrecken.

Der Mann mit den ausgestreckten Armen steht da wie gekreuzigt. Ein Soldat. Er wirft keinen Diskus, sondern eine Handgranate. Große schwarze Löcher anstelle von Augen. Sein Gesicht – ein Totenkopf. Grauenhaft.

Die Grafik heißt „Die Handgranate“, gezeichnet 1916 oder 1917 von Andreas Gering – ein Name, den keiner mehr nennt und wohl schon vor 100 Jahren keiner genannt hat. Womöglich hat das Bild außer dem Künstler nie jemand zu Gesicht bekommen, ehe es die Kölner Letter-Stiftung aufstöberte und erwarb. So wie hunderte ähnliche Kunstwerke: kleinformatige Grafiken und Medaillen mit Motiven aus dem Ersten Weltkrieg. Die europäische Katastrophe in allen Facetten. Ein Panoptikum des Schreckens. Von trügerischer Soldatenidylle über schonungslos-brutale Darstellungen des Sterbens auf den Schlachtfeldern bis zu düsteren grauschwarzen Miniaturen, die mit christlicher Todessymbolik zum Frieden mahnen; das volle Grauen – tendenziell subversiv, da ungeschönt. Die Propagandagemälde des Kaiserreichs sahen anders aus. Seit vergangener Woche zeigt das Bayerische Armeemuseum rund 300 dieser außergewöhnlichen Grafiken und Plaketten aus den Händen von 137 namenlos gebliebenen Künstlern im Reduit Tilly.

Es sei eine Art Leitfaden der Letter-Stiftung, nicht nur nach den großen Sternen zu greifen, sagt Bernd Ernsting, Kurator der Ausstellung „Der Große Krieg im Kleinformat“ und Autor des gleichnamigen Buches. Er vermutet, dass rund 40 Prozent der Werke bis zu ihrer Wiederentdeckung dank der Stiftung nie publiziert oder ausgestellt worden sind. „Viele Künstler haben niemals ein Publikum gehabt, und nicht wenige von ihnen haben den Krieg nicht überlebt.“ Ernsting beschreibt die kleinen Grafiken als „heimliche Künste der Schublade“: sehr private Blicke auf die „wirklichen und wahren, die schrecklichen Seiten des Weltkriegs“.

Zweifellos dienten viele Werke auch einem therapeutischen Zweck: Die Künstler verarbeiteten traumatische Fronterlebnisse. „Sie sind gezeichnet von einem ungeheuren Schock, denn diese brutale Form des Krieges hat sich zuvor niemand vorstellen können. Und sie sind oft schwer geschädigt vom dem, was sie erleiden mussten“, sagt Ernsting. „Junge Menschen, die 1914 als Individuen in den Krieg ziehen. Vermeintliche Helden, die schnell zu anonymen Nummern werden – zu einer Masse Mensch geformt, die bedenkenlos verheizt wird.“ Existenzielle Erfahrungen. So mancher der ausgestellten Künstler, sagt der Kurator, „begann konservativ zu malen – und wurde im Krieg zum Expressionisten“.

„Wir stellen der Flut von Fotos aus dem Ersten Weltkrieg eine Flut von Kunst entgegen“, sagt Ansgar Reiß, der Leiter des Bayerischen Armeemuseums. „Wir erleben in der Ausstellung eine Explosion von Bildern!“ Die meisten entstanden „frei von Zensur und sozialem Druck“. Das erklärt die Schonungslosigkeit der Schreckensgemälde aus der Schublade.

 

„Der Große Krieg im Kleinformat“ ist bis 26. Juli in der Dauerausstellung zum Ersten Weltkrieg im Reduit Tilly im Klenzepark zu den gewohnten Öffnungszeiten zu sehen: Dienstag bis Freitag von 9 bis 17 Uhr, Samstag, Sonntag und an Feiertagen von 10 bis 17.30 Uhr.