Ingolstadt
"Piraten sind wie die Grünen der 80er"

Parteienforscher Uwe Jun über die Erfolgsaussichten der neuen politischen Kraft

05.12.2011 | Stand 03.12.2020, 2:05 Uhr

Ingolstadt (DK) Die Piraten haben auf ihrem Kongress in Offenbach gezeigt, dass sie ernsthaft Kurs auf den Bundestag nehmen – mit Basisdemokratie und einem provokanten Programm. Der Politikwissenschaftler Uwe Jun von der Universität Trier lotet die Chancen der Piratenpartei aus.

Unsere Redakteurin Gabriele Ingenthron sprach mit ihm.

Wo würden Sie als Politikwissenschaftler die Piraten im Parteienspektrum einordnen?

Uwe Jun: Sie versuchen sich als Partei zu verstehen, die zum einen ein bestimmtes Lebensgefühl ausdrückt, insbesondere das der jüngeren Generation. Was sie einfordern ist: mehr Partizipationsrechte, mehr Bürgerrechte, mehr Transparenz in der Politik. Alles Forderungen, deren Durchsetzbarkeit bei den etablierten Parteien nicht denkbar wäre.

Auch Outlaws müssen sich in einer Parteiendemokratie breit aufstellen. Ist das der Internetpartei gelungen?

Jun: Die Piraten waren immer breit aufgestellt. Das ist ein Versuch der Medien und der Politik, sie als reine Internetpartei darzustellen. Das hat die Partei schon lange hinter sich gelassen. Die Partei hat auf dem Kongress noch mal klarer Farbe bekannt, wofür sie steht: für den Wert der Selbstentfaltung, eine libertäre Partei. Es geht darum, Selbstentfaltung für jeden einzelnen zu gewährleisten. Und der Staat hat dafür die Bedingungen zu schaffen.

Zum einen fordern sie ein gesichertes Grundeinkommen für alle, wie es auch Die Linke schon einmal angedacht hat. Zum anderen sind sie wie die Liberalen gegen eine Begrenzung von Managergehältern. Ist das kein Widerspruch?

Jun: Man sieht daran, dass der Staat sich möglichst wenig einzumischen hat. Wie das Ganze allerdings realisiert werden kann, denn das Grundeinkommen muss ja finanziert werden, das bleibt die Partei schuldig.

Die Piraten stehen auch für einen neuen Politikstil: Jedes Mitglied hat Rederecht, es gibt keine Delegierten, Anträge werden übers Netz eingebracht. Ist das auf Dauer praktikabel?

Jun: Wirklich neu ist das nicht. Wir erinnern uns, dass vieles von dem schon bei den Grünen in den 80er Jahren vorhanden war. Dort sollte es nur Mitgliederversammlungen geben, keine Delegierten, man versuchte einer Parteielite entgegenzuwirken. Also alles, was wir bei den Piraten jetzt auch finden. Mit einer Ausnahme, dass die Piraten versuchen, die neuen technischen Möglichkeiten zu nutzen. Also keine großen Innovationen, sondern das was von den Grünen auch schon implementiert wurde, aber im Zuge ihres realpolitischen Kurses nach und nach aufgegeben werden musste. Und wir müssen sehen, ob die Piratenpartei, was ihre interne Organisation angeht, das nicht auch nach und nach aufgeben muss.

Brauchen wir also alle 30 Jahre einen neuen Politikstil, um Farbe in unser Parteiensystem zu bringen und die Wähler an die Urnen zu lotsen?

Jun: Ein bisschen etwas davon hat es. Es gibt immer diejenigen, die mit der etablierten Politik unzufrieden sind, weil ihre Meinungen und Interessen nicht gehört werden, weil bestimmte Generationen andere Ideen haben. Und da entstehen immer Parteien, die in diese Nischen gehen und versuchen, diesen Bedürfnissen nachzugehen. Und genau diese haben sich jetzt unter anderem bei den Piraten versammelt.

Das Image von der Internet-Partei wird dennoch kultiviert. Warum?

Jun: Die Nutzung der modernsten Kommunikationsmittel ist nur ein Teil, den sich die Piraten auf die Fahne schreiben. Ingesamt geht es gegen die etablierten, verkrusteten Formen, die aus Sicht der Anhänger der Piraten vorherrschen, deswegen können sie auch Ältere auf ihre Seite ziehen. Aber dass die Nutzung modernster Kommunikationsmittel zum Alltag der jüngeren Generation gehört und deswegen auch von den Piraten favorisiert wird, das ist klar. Da sehen sie auch ihre Chance, mehr Partizipation und Transparenz herzustellen.

Schon auf dem Kongress wurde klar: Diese Art von Basisdemokratie ist zeitintensiv.

Jun: Ob diese sehr offene und dadurch auch etwas anarchische Struktur der Willensbildung aufrechterhalten werden kann, wenn die Partei stärker in parlamentarische Prozesse eingebunden wird oder gar in die Exekutive, das mag ich bezweifeln. Diesen Weg mussten auch schon die Grünen gehen.

Die Piraten haben mittlerweile über 20 000 Mitglieder. Trauen Sie es ihnen zu, Lösungen zu finden?

Jun: Das wird sich erweisen müssen. Das geht wahrscheinlich nur, in dem die Organisationsstruktur den Mitgliederinteressen angepasst wird. Ob dann so eine offene, transparente, dezentrale Form den Mitgliedern genügen wird, da sind doch große Zweifel angebracht.

Wenn am nächsten Sonntag Bundestagswahl wäre, bekämen die Piraten sechs Prozent. Wie schätzen Sie die Entwicklungsfähigkeit der Partei ein?

Jun: Das haben die Piraten nicht allein in der Hand. Werden wir von Krisen verschont? Wie reagieren die Bürger auf die etablierte Politik, können die anderen Parteien die anstehenden Probleme lösen, inwieweit können sie Glaubwürdigkeit erreichen? Zeigen die etablierten Parteien Problemlösungskompetenz, erzeugen sie Vertrauen bei den Wählern, dann werden es die Piraten schwerer haben. Und die Piraten müssen an der einen oder anderen Stelle programmatisch und personell Veränderungen vollziehen, klarer werden, mehr Glaubwürdigkeit und Umsetzbarkeit ihrer Vorschläge erarbeiten.