Ingolstadt
Panoramablick auf das Schussfeld

Während der Geiselnahme lief die Evakuierung des Rathaus-Umfelds nicht ganz so, wie sie sollte

22.08.2013 | Stand 02.12.2020, 23:45 Uhr

Mißlbecks Aussicht aus dem Büro: Hier trat die Kugel, die den Geiselnehmer verletzt hatte, aus. Im Haus gegenüber (links neben Mc Donald’s) schlug sie zwischen erstem und zweitem Stock ein. - Foto: Strisch

Ingolstadt (DK) Während der Geiselnahme am Montag sind bei der Evakuierung des Rathausumfelds einige Anlieger im Haus direkt gegenüber dem Büro Sepp Mißlbecks nicht informiert worden. Beim Zugriff der Polizei schlug in der Fassade eine Kugel ein. Die Polizei sagt, ihr Möglichstes getan zu haben.

Das Drama direkt vor ihrer Haustür erreichte sie in weitem Bogen: Am Montagvormittag erhielt eine Ingolstädterin, die mit ihrem Ehemann in der Moritzstraße gegenüber dem Alten Rathaus wohnt, den Anruf einer Bekannten. Die berichtete, was sie gerade von einer Freundin erfahren hatte, die in Bad Wiessee lebt und es wiederum aus dem Radio wusste: Geiselnahme im Ingolstädter Rathaus. Da schaute die Anliegerin dann doch mal aus dem Fenster. Und war sofort mittendrin.

Überall Polizei. „Ich dachte erst, das ist für den Besuch der Kanzlerin“, erzählt sie. War es aber nicht. Da wurde ihr schlagartig bewusst, was wirklich geschah. Das Drama nahm gleich gegenüber seinen Lauf. Da liegt das Büro Sepp Mißlbecks. „Ich habe schon mal rübergeschaut, aber man hat nichts erkannt.“

Zuvor, so gegen 11 Uhr, hatte ihr Mann noch ahnungslos das Haus verlassen, um zum Arzt zu gehen. „Ein Polizist hat ihn erschrocken gefragt, was er da um Gottes willen wolle, denn er sei hier in Gefahr. Mein Mann hat sich nur gedacht, dass die sich nicht so anstellen sollen wegen der Merkel“, erzählt die Frau. Aufgeklärt wurde ihr Gatte nicht. Sie auch nicht. „Bei uns hat keiner geklingelt. Wir wussten nicht, dass unsere Wohnung im Gefahrenbereich liegt.“

Also verließ sie erst später das Haus, da sie einen Termin hatte. Hinaus gelangte sie über die Tiefgarage, deren Zufahrt auf die Sauerstraße führt. Gegen 17.45 Uhr knallte es. Die Kugel des Sondereinsatzkommandos durchschlug eine Schulter des Geiselnehmers, dann das Fenster. Sie landete in der Fassade gegenüber, knapp unterhalb eines Fensters der Arztpraxis im zweiten Stock. Zu diesem Zeitpunkt war das Ehepaar, das im dritten Stock wohnt, nicht daheim. Auch für das Praxisteam bestand keine Gefahr, denn es weilt in der Sommerpause.

Die Frau will den Polizisten – bei allem nachträglichen Erschrecken – keinesfalls einen Vorwurf machen. „Die standen ja stark unter Druck. Das war für alle eine sehr schwierige Situation.“ Entscheidend sei, betont sie, „dass die Geiseln unverletzt geblieben sind“.

Im selben Haus, zwei Etagen tiefer, erlebte Andrea Bönsch diesen außergewöhnlichen Tag ebenfalls aus einer ganz speziellen Perspektive. Sie betreibt das Bettenfachgeschäft „Schlaf schön mit . . .“ und sperrte am Montag wie immer um 10 Uhr auf. Auch sie hatte das Gebäude über die Tiefgarage von der Sauerstraße aus betreten, das heißt: Keine Absperrung stand der Geschäftsfrau im Weg. „Ich habe dann wie üblich eine Matratze als Werbung auf die Moritzstraße gestellt“, erzählt Andrea Bönsch. Da war die Geiselnahme schon seit gut einer Stunde im Gange, aber das ahnte sie nicht. „Mir kam schon einiges seltsam vor: Das Geschäft Strauss Innovation unter meinem war zu, der McDonald’s nebenan war dunkel, die Bäckerei gegenüber war hell, aber leer. Keine Leute auf der Straße. Ich habe die Absperrbänder gesehen und mir gedacht: Jetzt spinnense ja wohl ganz mit dem Merkel-Besuch.“

Bald trat ein Polizist auf sie zu. „Der hat aufgeregt gefragt: ,Ja, was machen Sie denn hier’ Dann hat er mich aufgefordert, mein Zeug sofort wieder reinzuräumen, denn heute kämen garantiert keine Kunden mehr – so hat er sich ausgedrückt.“

Das Problem dabei: „Er hat mir nicht gesagt, warum das alles. Ich habe immer noch gedacht, das sei wegen der Bundeskanzlerin, und ich habe mich darüber geärgert, einen ganzen Tag auf Umsatz verzichten zu müssen“, sagt Andrea Bönsch. „Als ich dann später im Radio gehört habe, was wirklich los ist, musste ich mich noch mehr ärgern. Ich finde, man hätte alle im Haus informieren sollen.“ Sie sei dann zwar bald heimgefahren, „aber die Vorstellung, wie ein Geschoss im Haus einschlägt, ist trotzdem beängstigend“. Doch auch sie stellt klar: „Man muss dankbar sein, dass den Geiseln nichts passiert ist!“

Günther Beck, Erster Kriminalhauptkommissar im Polizeipräsidium Oberbayern Nord, erklärt die Situation aus Sicht der Einsatzkräfte: „Selbstverständlich haben wir im Gefahrenbereich jeden alarmiert, überall geläutet und die Anwohner aufgefordert, sofort die Gebäude zu verlassen. Wir haben auch gleich die Geschäfte in der Nähe des Alten Rathauses geräumt. Doch wenn einer nicht aufgemacht hat, haben wir natürlich nicht die Tür aufgebrochen, das ist ja klar. Und wir haben auch nicht darüber Buch geführt, bei wem schon geklingelt worden ist, wer aufgemacht hat und wer nicht.“ Denn das, sagt Beck, sei in der schwierigen Situation unmöglich gewesen. „Lautsprecherdurchsagen gingen auch nicht, schließlich war der Geiselnehmer direkt gegenüber.“

Es war eben ein Einsatz ganz besonderer Art, sagt der Hauptkommissar. Um so glücklicher ist er über das gute Ende.