Ingolstadt
Notizen aus dem Krankenlager

Erster Weltkrieg: Ein Zeitzeugenbericht schildert den Alltag im Reservelazarett II beim Hauptbahnhof

02.07.2014 | Stand 02.12.2020, 22:31 Uhr

Seltene Gelegenheit: Rund 50 Besucher folgten am Dienstag der Einladung zur Besichtigung des ehemaligen Reservelazaretts II gegenüber dem Hauptbahnhof. Militärhistoriker Dieter Storz las dort aus dem Kriegstagebuch Wilhelm Heiders vor - Foto: Brandl

Ingolstadt (DK) Das alte Eisenbahn-Ausbesserungswerk gegenüber dem Hauptbahnhof diente von 1915 bis 1917, während des Ersten Weltkriegs, als Lazarett. Am Dienstagabend hatten rund 50 Besucher die seltene Gelegenheit, die ansonsten versperrten und leer stehenden Hallen bei einer Führung zu erleben.

Eigentlich sollten in den ab 1909 errichteten Hallen Lokomotiven und Waggons der Reichsbahn instand gehalten werden. Denn Ingolstadt hatte sich zu dieser Zeit mit seinen damals drei Bahnhöfen zu einem Eisenbahn-Verkehrsknotenpunkt entwickelt. Stattdessen aber brachten ab Kriegsbeginn Züge waggonweise Verwundete von der Front in die Schanz. Zu Stoßzeiten 40 Mann pro Wagen.

Einer der ersten Kriegsverletzten in Ingolstadt war Wilhelm Heider aus Pörnbach. Heider zog 1914, mit Anfang 20, mit seinem bayerischen Feldartillerieregiment in den Krieg. Schon nach wenigen Wochen wurde er in Lothringen am linken Unterarm schwer verwundet. Ein Granatsplitter hatte ihm ein etwa sechs Zentimeter langes Stück des Knochens zerschlagen. Im Reservelazarett II wurde er versorgt und operiert. Ein riskanter Eingriff wegen der erhöhten Infektionsgefahr. Die Ärzte entnahmen dem Patienten ein Stück Knochen aus dem rechten Schienbein und setzten es in den Unterarm ein. Seine im Lazarett niedergeschriebene Chronik, verfasst während des knapp zweijährigen Aufenthalts, vermittelt einzigartige Einblicke in die Atmosphäre des Kriegsbeginns und in das Innenleben eines Militärlazaretts aus der Sicht eines Patienten.

Anlass der Besichtigung am Dienstagabend: Die Ausstellung des Armeemuseums im Reduit Tilly über den Beginn des Ersten Weltkriegs, der sich heuer zum 100. Mal jährt. Nach einer bebilderten Einleitung zur Geschichte des Baus des Ausbesserungswerks von Harald Kneitz, Mitarbeiter des Kulturamts, las der Militärhistoriker Dieter Storz vom Bayerischen Armeemuseum aus den Aufzeichnungen Wilhelm Heiders vor. Heider, der zum Ende dienstältester Patient des Lazaretts war, schildert in seinen Notizen manche Härten, die die Patienten zu ertragen hatten. So muss die Hitze in den Sommermonaten (die Sonne scheint durch Scheddächer in den hohen Raum) sehr unangenehm gewesen sein. „Die wenigen Ärzte, die hier waren, hatten es sehr streng, denn es waren doch so circa 2200 Verwundete hier, und jeder wollte verbunden sein“, berichtet er aus dem Lazarettalltag. „Nachmittags von drei bis vier Uhr bekamen wir Mittagessen; da noch nicht genügend Geschirr da war, wurden, nachdem ein Teil gegessen hatte, die Kasserolen eingesammelt und an die nächsten verteilt, mit dem Besteck war’s dasselbe.“ Heider setzt sich als praktizierender Katholik in seinen Aufzeichnungen aber auch mit der Ausübung der Religion im Lazarett auseinander, schildert den Schmuck und die Reden zum Weihnachtsfest. Später geht er auf die anfänglich mangelhafte Ausrüstung der Ärzte an Instrumenten und Geräten ein.

Der Pörnbacher erlebte den Alltag im Reservelazarett II von Beginn an mit. Wegen eines Schienbeinbruchs, den er sich zusätzlich zur Armverletzung zuzog, verlängerte sich sein Aufenthalt und dauerte schließlich fast zwei Jahre. „Seine Verwundung war nicht lebensbedrohlich aber langwierig“, sagt Storz, der Heiders tagebuchartige Notizen – ein Dachbodenfund bei der Familie des 1966 verstorbenen Weltkriegsteilnehmers – jetzt als Buch herausgebracht hat. „Sie hat ihm unter Umständen das Leben gerettet, weil er deswegen nie mehr in die Zone der Gefahr musste.“