Ingolstadt
"Ein deutliches Missverhältnis zwischen Anlass und Tat"

Kein Mordversuch, sondern gefährliche Körperverletzung: Messerstecher muss für knapp vier Jahre ins Gefängnis

23.01.2017 | Stand 02.12.2020, 18:45 Uhr
Symbolbild Gericht −Foto: David Ebener/dpa

Ingolstadt/Burgheim (DK) Fast hätte es einen Toten gegeben. Der Messerangriff in einem Burgheimer Gastarbeiterwohnheim im vergangenen Mai (DK berichtete) war eine ganz erhebliche Straftat - aber sie war kein Mordversuch. Das Ingolstädter Schwurgericht, das den Fall über drei Verhandlungstage hinweg aufgerollt hat, ist ebenso wie Staatsanwältin Bianca Kampert davon überzeugt, dass der angeklagte 47-jährige Slowake letztlich aus freien Stücken vom bereits lebensgefährlich verletzten Opfer abgelassen und somit juristisch einen sogenannten Rücktritt vom Tatvorsatz vollzogen hat.

Damit war der blutige Zwischenfall "nur" noch als gefährliche Körperverletzung abzuurteilen. Die Strafkammer verhängte gestern drei Jahre und neun Monate Haft gegen den von Beginn an voll geständigen Täter.

Der Richterspruch dürfte in Kürze rechtskräftig werden, da Angeklagter und Staatsanwaltschaft ihn bereits akzeptiert haben. Nebenklagevertreter Martin Angermayr konnte sein Einverständnis nicht sofort erklären, weil er erst noch Rücksprache mit seinem Mandaten nehmen muss. Doch das ist wahrscheinlich nur eine Formsache. Der 37-jährige Pole, der seinerzeit durch einen tiefen Stich in den Bauch lebensgefährlich verletzt worden war, dürfte schon froh sein, dass der Angreifer generell für seine Tat büßen muss, so die Einschätzung des Rechtsanwalts.

Wie schon kürzlich beim Prozessauftakt berichtet, hatte der so gefährlich eskalierte Streit zwischen den Zimmernachbarn eine ganz banale Ursache gehabt: Der Pole hatte dem Slowaken angeblich durch häufiges lautes Schnarchen den Schlaf geraubt, hatte sich in seiner offenbar aber recht rabiaten Art keine Kritik gefallen lassen und den Mitbewohner in der fraglichen Nacht sogar noch ausgesperrt. Dieser - nach drei bis vier Flaschen Wein mit später errechneten maximal rund 2,4 Promille "ausgestattet" - hatte sich gekränkt gefühlt und sich mit dem Messer Gerechtigkeit verschaffen wollen.

Diese Reaktion sei weit überzogen und unter vernünftigen Gesichtspunkten überhaupt nicht nachvollziehbar gewesen, erklärte Vorsitzender Jochen Bösl in der Urteilsbegründung. Der Richter: "Es gab ein deutliches Missverhältnis zwischen Anlass und Tat." Dass aus so nichtigem Grund beinahe ein Mensch getötet worden wäre - der Pole verdankt sein Überleben einer dreistündigen Notoperation im Neuburger Krankenhaus - hat alle Prozessbeobachter und natürlich auch das Gericht befremdet.

Zugutehalten konnten die Kammer und auch die Anklägerin, die vier Jahre und zwei Monate Haft gefordert hatte, dem Slowaken neben seinem Geständnis vor allem die erhebliche Einschränkung der Steuerungsfähigkeit zum Tatzeitpunkt. Der Alkoholrausch habe den Täter fraglos enthemmt und wohl auch eine gewisse affektive Aufgeladenheit gefördert, hatte zuvor bereits der psychiatrische Gutachter Belá Serly (München) festgestellt.

Ganz entscheidend für die juristische Bewertung war letztlich, dass der Mann das Messer mit gut 20 Zentimeter langer Klinge wohl aus freien Stücken fallengelassen hatte, nachdem er die stark blutenden Wunden (an Arm und Bauch) des Opfers gesehen hatte. Sein Verteidiger Stefan Roeder hielt angesichts der Umstände eine Freiheitsstrafe von drei Jahren für ausreichend.

Der Fall hat auch noch eine andere Komponente, die im Lebenslauf des Angeklagten zu sehen ist, die bei der Urteilsfindung allerdings nicht berücksichtigt werden konnte: Der Werdegang des 47-Jährigen wirft die Frage auf, wie ein Mann mit seinen intellektuellen Fähigkeiten als Hilfskraft in einer Leiharbeiterkolonne landen und dort dann aus derart profanem Anlass straffällig werden konnte. Der Mann stammt nämlich aus einer Akademikerfamilie und gilt mit einem IQ von 130 - ermittelt in der Untersuchungshaft bei ausgiebigen psychologischen Tests - als hochintelligent. Sein Vater sei Professor für Linguistik, sein Bruder promovierter Philosoph, hieß es gestern. Er selbst hatte allerdings bereits nach zwei Jahren sein Sprach- und Philosophiestudium "geschmissen" und ohne Berufsausbildung später häufig wechselnde Jobs gehabt. Gutachter Serly: "Er ist unter seinen Möglichkeiten geblieben."