Ingolstadt
"Mehr als unbefriedigend"

Fall eines psychisch Kranken zeigt die Grenzen des Strafrechts auf

28.09.2016 | Stand 02.12.2020, 19:15 Uhr

Ingolstadt (DK) Die Richter wirkten nicht begeistert vom Ergebnis, aber der Gesetzgeber hatte ihnen keine Wahl gelassen: Ein psychisch Kranker, der im Klinikum randaliert hatte, durfte gestern wegen Schuldunfähigkeit als freier Mann das Landgericht verlassen. Ob er jemals therapiert werden kann, bleibt ungewiss.

In dem zweitägigen Verfahren vor der 5. Strafkammer (DK berichtete bereits am 21. September) war es um die mögliche längerfristige Unterbringung des Beschuldigten in einem psychiatrischen Landeskrankenhaus gegangen. Die Staatsanwaltschaft hatte das angestrengt, und der Anklagevertreter stellte gestern nach Anhörung eines Sachverständigen in seinem Plädoyer auch genau diesen Antrag.

Doch es kam anders: Weil der vor zwei Jahren reformierte einschlägige Paragraf 63 des Strafgesetzbuchs hohe Hürden für eine solche Zwangsmaßnahme vorsieht, konnte die Kammer unter Vorsitz von Thomas Denz angesichts der Beweiswürdigung praktisch gar nichts anderes tun, als den 60-jährigen Russlanddeutschen, der während der Verhandlung immer wieder durch spontane, oft wirre Redebeiträge aufgefallen war, laufenzulassen. Es gehe von ihm, so die Begründung, nach jetzigem Erkenntnisstand eben doch keine permanente und erhebliche Gefahr für die Allgemeinheit aus.

Wie berichtet, hatte sich der Mann, der offenbar seit vielen Jahren als Nichtsesshafter kreuz und quer durch Deutschland zieht, im vorigen Dezember in der geschlossenen Psychiatrie des Klinikums einige Eskapaden geleistet. Nicht nur, dass er beständig seine Kampfsportkünste und seine angeblichen Verbindungen zu höchsten russischen Regierungsstellen, zum KGB und zur Russenmafia herausgestellt hatte - er hatte auch wiederholt Krankenschwestern und Pfleger beleidigt und einige Männer (Patienten wie Aufsichtspersonal) tätlich angegriffen. Ein Amtsrichter hatte schließlich seine vorläufige Unterbringung im Isar-Amper-Klinikum in Haar verfügt. Von dort war er später wegen erheblicher Auffälligkeiten in das angeblich noch besser auf problematische Patienten eingestellte Landeskrankenhaus in Straubing verlegt worden.

Der im Prozess gehörte Sachverständige attestierte dem Beschuldigten eine schizoaffektive Störung mit manischen Schüben. Eben ein solcher Schub habe im vorigen Dezember dafür gesorgt, dass der Obdachlose einige Patienten und Betreuer in der Ingolstädter Psychiatrie ordentlich aufgemischt hatte. Allerdings war der Mann wohl immer dann "ausgetickt", wenn er seine Bewegungsfreiheit eingeschränkt sah. Zu wirklich ernsthaften Verletzungen war es aber bei keinem der Opfer gekommen.

Genau hier sah die Verteidigerin, aber auch das Gericht den springenden Punkt: Zu keinem Zeitpunkt beim Tatgeschehen vom Dezember, aber auch nie in der durchaus bewegten Vorgeschichte des Mannes (29 Eintragungen im Bundeszentralregister) war es zu einer wirklich bedenklichen Situation mit erheblicher Gefahr für Leib und Leben der Opfer gekommen. Die Vorahndungen bezogen sich großenteils auf kleinere Betrügereien. Da konnte einfach keine akute Gefährdung der Allgemeinheit herausgelesen werden, und deshalb war nach der neuen Gesetzeslage auch keine Einweisung zu rechtfertigen.

Schuldfähig ist der Obdachlose wegen seiner wohl schon seit fast 30 Jahren beobachteten psychischen Erkrankung ohnehin nicht. Vorsitzender Denz sprach mit Blick auf die vielen Klinikaufenthalte des Mannes von einer "Odyssee durch alle möglichen psychiatrischen Einrichtungen". Und es ist nicht auszuschließen, dass es so weitergeht. Weil der Kranke offenbar bislang jede längerfristige Medikation abgebrochen hat, ist er in Freiheit auch kaum therapierbar. Dass er wieder auffällig wird, wenn er draußen erneut in schwierige Situationen geraten sollte, ist geradezu absehbar.

Wie also wird es mit dem Mann nun weitergehen? Jetzt ist nach Auffassung von Gericht und Verteidigerin vor allem sein amtlich eingesetzter Betreuer gefordert. Doch von dem war gestern nichts zu sehen. Thomas Denz hatte tags zuvor mit Blick auf die mögliche Freilassung des Beschuldigten bereits versucht, mit dessen gesetzlichem Vertreter telefonisch Kontakt aufzunehmen, aber nur einen Anrufbeantworter erwischt. Er finde die soziale Situation, die sich in diesem Fall auftue, "mehr als unbefriedigend", kommentierte der Richter.