Ingolstadt
Mehr als nur ein Schuster

22.12.2009 | Stand 03.12.2020, 4:23 Uhr

Freut sich auf den Ruhestand: Wolfgang Müller, der Schuster im früheren Ingo-Center, hört nach 25 Jahren auf. Sehr zum Bedauern der Kundschaft, denn der gelernte Schlosser brachte jeden Absatz und jede Naht hin oder fand stets den richtigen Schlüssel. - Foto: Herbert

Ingolstadt (DK) "Ham S’ noch was zu erledigen" Das war der Standardsatz von Wolfgang Müller – doch damit ist jetzt Schluss. Der Schuster im ehemaligen Ingo-Center an der Münchener Straße hatte gestern seinen letzten Arbeitstag. Zum großen Bedauern der Stammkunden, die in den vergangenen Tagen noch alles vorbeibrachten, was Sohlen oder Absätze hat. Der 67-Jährige, der immer mit seiner Honda aus Hepberg angebraust kam, konnte sich vor Arbeit nicht mehr retten.

An Arbeit hat es nie gemangelt in den vergangenen 25 Jahren, seit die kleine Werkstatt in dem großen Supermarkt eröffnet wurde. Die Absätze konnten noch so schief und abgelaufen sein, die Sohle noch so dünn, der Schlüssel noch so ausgefallen – für Wolfgang Müller gab es immer eine Lösung.

So auch gestern, als ein Herr mit einem Schrankschloss auftaucht und nach einem neuen Schlüssel fragt. Der ist bald gefunden, denn Müller verfügt über eine beachtliche Sammlung, deren Wert er auf etwa 20 000 Euro schätzt. Doch es zeigt sich bald, dass im Schloss noch ein Restchen alten Schlüssels steckt. Der gelernte Maschinenschlosser bohrt und fieselt herum, doch diesmal klappt es nicht auf Anhieb. "Das Schloss muss ich zerlegen, leider. Kommen S’ bitte morgen noch mal vorbei."

Eigentlich gibt es dieses Morgen ja nicht mehr, denn Müller möchte nur noch ausräumen. Das will was heißen in dieser Werkstatt, wo auf engstem Raume alles an seinem Platze ist: Sohlen aus Leder oder Gummi, Werkzeug und Schrauben, Schilder und Schnürsenkel, Stempel und Taschen. Aber der Handwerker schickt nicht gern Kunden fort. Das bestätigt auch eine Dame, die Schuhcreme braucht. "Er hat für uns so manches hingebracht, was andere nicht mehr repariert hätten." Des Schusters Dienste gingen auch sonst weit über das übliche Maß hinaus. "Ich hab’ sogar Eltern angesprochen, wenn ich gesehen hab’, dass die Schuhe ihrer Kinder nicht normal abgelaufen waren. Denen hab’ ich dann einen guten Orthopäden empfohlen."

Auch die Dame schüttelt Wolfgang Müller zum Abschied herzlich die Hand und wünscht ihm alles Gute. Glücklich lächelt der 67-Jährige durch seine runden Brillengläser und reibt mit seinen kräftigen Händen über die zerschlissene Schürze, die er nun für immer an den Nagel hängt. Reisen will er, sich ums Haus kümmern und vor allem wandern. Das war schon immer des Müllers Lust, immer sonntags. "Ich kenn’ jeden Wildwechsel von Dollnstein bis nach Kelheim. Ohne das Wandern hätt’ ich das hier nicht durchgestanden, all die Jahre, tagtäglich bei Kunstlicht."

Anfangs hatte der Schuster jahrelang Ärger mit der Innung, weil er ohne Meistertitel einen Betrieb führte. Am Ende hat er die Prüfung nachgeholt. Die 5000 Mark Gebühr wurmen ihn noch heute. Jetzt hat Müller seinen Nachfolger eingearbeitet, Eugen Holzwart, ein junger Mann mit schwerer Behinderung aus Usbekistan. Der will den Laden übernehmen, allerdings an einem neuen Standort an der Ettinger Straße. Der 67-Jährige wird ihm noch ein paar Monate helfen, bis das Geschäft in Gang kommt. "Ohne Geld."

Wolfgang Müller hat stets viel gearbeitet und gut verdient. "Mehr als ein Facharbeiter bei Audi am Band." Doch er kennt als Flüchtling auch die Armut. 1947 wurde er als kleiner Bub mit seiner Familie auf einem Hof in der Holledau einquartiert. "Die Bäuerin war eine rechte Bissgurn und hat uns schon vom weitem entgegen geplärrt: Habt’s jetzt Läus’ und Flöhe aa? Ja freilich hatten wir die. Das werd’ ich nie vergessen."

Er erinnert sich auch noch genau, wie die Familie damals am ersten Advent in der Wohnküche um den kleinen Tisch saß. "Plötzlich gibt es einen Mordsradau, die Tür fliegt auf, und der Nikolaus kommt rein und sein Krampus mit Ketten. Die Eltern sind fürchterlich erschrocken, und der Bruder hat geweint. Aber dann hat der Nikolaus seinen ganzen Sack über dem Tisch geleert, und alles ist rumgekullert, und die Nüsse und Äpfel sind über den ganzen Boden gerollt."

Der Schuster sinnt kurz nach. "Schad’, dass ich kein Schriftsteller bin. Dann tät’ ich das alles aufschreiben." Zeit hätte er ja jetzt für seine Memoiren.