Ingolstadt
Luthers Erben

Rund 2300 Schüler haben sich an einem modernen Thesenanschlag beteiligt um ihre Wünsche zu äußern

30.10.2017 | Stand 02.12.2020, 17:16 Uhr

Ihre Erwartungen an Politik, Gesellschaft und Kirche haben rund 2300 Schüler in allen Teilen des Ingolstädter Dekanats der evangelischen Kirche in Form von Thesen (oben) formuliert. Diese nagelten sie an mobile Holzkirchen, die die evangelische Jugend bei ihren Besuchen mitgebracht hatten (Bild unten rechts). Die Ergebnisse wurden am Tag vor der Bundestagswahl im Kulturzentrum neun unter anderem mit Politikern wie dem Bundestagsabgeordneten Reinhard Brandl (CSU) und dem dritten Bürgermeister Sepp Mißlbeck (UDI) diskutiert. - Fotos: Evangelische Jugend Ingolstadt

Ingolstadt (DK) Die evangelische Jugend Ingolstadt hat das Lutherjahr, das an diesem Dienstag seinen Höhepunkt erlebt, genutzt, um bei 30 Veranstaltungen mit rund 2300 Kindern und Jugendlichen nachzufragen, was sie heute von Kirche aber auch von Politik und Gesellschaft erwarten. Heraus kam ein differenziertes Stimmungsbild.

Die Politiker sollten bei ihren Entscheidungen mehr auf ihre Bürger achten, die Kirche sich stärker den heutigen Bedürfnissen der Menschen anpassen, und wir alle sollten uns wieder mit mehr Respekt begegnen: Das sind einige der Kernaussagen, die die evangelische Jugend bei ihren Besuchen in Schulen im Dekanat Ingolstadt von Berg im Gau über Pförring bis nach Mainburg gesammelt hat - und die auch sicher viele Erwachsene unterschreiben könnten. Bei den mehr als 30 Besuchen zeigte sich auch: Die jungen Menschen sind politisch deutlich interessierter und informierter, als ihnen häufig von der Elterngeneration unterstellt wird.

Ziel der Aktion, die unter dem Motto "Lutherfutter" lief, war, Kinder und Jugendliche zu erreichen und zu erfahren, was in ihnen vorgeht - natürlich auch aus Eigeninteresse: "Viele wehren ab, wenn Kirche draufsteht", sagt Catharina Demmer (Foto links), die geschäftsführende Jugenddekanatsreferentin. Sie kämen nicht auf die Idee, dass das irgendetwas mit ihrer Lebenswirklichkeit zu tun haben könnte. Dass die Kirche auf sie zukam - mit einer mobilen Holzkirche, an die jeder einen Wunsch oder eine These nageln konnte - und fragte, was sie wollten, das habe sie dann schon erstaunt, erklärt Demmer. Und es habe sie zum Mitmachen animiert.

"Am Ende war die Kirche immer völlig zernagelt", sagt Projektleiter und Jugendreferent Sebastian Schäfer (Foto links). Drei Bereiche hatten Schäfer und seine Kollegen ausgewählt: Kirche, Politik und Gesellschaft. Innerhalb dieser Themenfelder war erst einmal jede These zugelassen. So gab es beispielsweise im Politischen eine breite Streuung an Forderungen zwischen "mehr Flüchtlinge rein" und "mehr Flüchtlinge raus". Je nachdem, wie die Mehrheitsmeinung an einer Schule war, beeinflusste das offenbar auch die Thesen der Mitschüler. Generell ging es den Schülern offenbar um Gerechtigkeit - ein weites Feld: "Es ist sehr einfach zu sagen: Wir wollen Frieden. Wie man zu den Flüchtlingen steht, ist da sehr viel schwieriger", sagt Schäfer. Interessant war, dass Themen verstärkt vorkamen, je nachdem, wie präsent sie gerade in der Öffentlichkeit waren, zum Beispiel Trump, Erdogan oder die Ehe für alle. Für Schäfer und Demmer ein Beleg, dass junge Menschen sehr wohl am Weltgeschehen interessiert und darüber informiert sind.

Das zeigt sich auch an der Grundstimmung der Thesen: "Viele empfinden unsere Zeit als bedrohlich, meint Schäfer. Oft hätten die Schüler gesagt, sie würden Krieg verbieten, ebenso wie Waffen, und Frieden schaffen. Sowohl im gesellschaftlichen Bereich als auch im politischen spiegele sich wider, dass diese Generation mit dem Terror aufgewachsen sei, ergänzt Demmer.

Auch in der Gesellschaft wünschen sich die Kinder und Jugendlichen Gerechtigkeit, genauso wie Achtsamkeit, Toleranz - und Akzeptanz: "Die höchste Form der Anerkennung bei den jungen Menschen ist Respekt, also eine Kultur, die Leistung des anderen anzuerkennen, das finde ich einen superschlauen Gedanken", sagt Schäfer.

Das Vorurteil, dass die Thesen besser seien, je höher der Bildungsgrad ist, das habe sich bei der Befragung nicht bestätigt, erklärt der Diakon. "An Grundschulen denkt man, dass man die Eltern sprechen hört", sagt Demmer. "Da zeigt sich, wie vorsichtig man als Erwachsener sein muss, wie man sich gegenüber den Kindern äußert." Bei der Befragung offenbarte sich auch ein Unterschied zwischen Stadt und ländlichem Raum: Den Ruf nach fairen Milchpreisen habe man in der Stadt nicht gehört, sagt Demmer. Wohl aber auf dem Land. In der Stadt habe es dagegen eher den Wunsch nach flächendeckendem Wlan gegeben. "Es wäre spannend, da noch mal einzusteigen", sagt Schäfer.

Für ihn und seine Kollegen sind allerdings andere Ergebnisse bedeutsamer: Für viele ist Kirche heutzutage einfach ein Gebäude, in dem Gottesdienste stattfinden, die für junge Menschen wenig attraktiv sind: "Sonntag, halb zehn in einer kalten Kirche Orgelmusik hören - das wollen die wenigsten", sagt Demmer. Auch da müsse man ansetzen. Und dass es eine Trennung von katholischer und evangelischer Kirche gibt, das empfänden viele Schüler als "bescheuert".

"Der Wunsch nach Spiritualität ist ja vorhanden", sagt Schäfer. Und es gebe in den katholischen wie evangelischen Kirchengemeinden etliche gute Angebote, nur müsse man das noch mehr publik machen und noch mehr auf die Menschen zugehen: "Unser Kunde sind die Menschen vor Ort, damit steht's und fällt's. Wenn wir nicht mehr vor Ort sind, dann wird die Kirche ein Problem kriegen." Und bei jungen Menschen bedeute "vor Ort" auch: rein in die sozialen Netzwerke, die einem ständigen Wandel unterzogen sind. "Facebook ist tot", sagt Schäfer. "Wir müssen auf Instagram."

Den besuchten Schulen versprachen die Veranstalter, die Thesen an die Verantwortlichen in Ingolstadt und dem Umland weiterzugeben. Einen Tag vor der Bundestagswahl hatte die evangelische Jugend zudem zu einer Diskussionsrunde im Kulturzentrum neun eingeladen, um mit politischen, gesellschaftlichen und kirchlichen Vertretern sowie Kindern und Jugendlichen über die Ergebnisse zu diskutieren. Das Interesse war groß.

"Lutherfutter" war für die evangelische Jugend dabei nur der Anfang. Ab sofort will sie jedes Jahr mit einer großen Aktion auf die jungen Menschen zugehen und ihr Sprachrohr sein. Aufhänger ist im kommenden Jahr nichts Kirchliches, sondern eine Ersatzreligion: Es geht, passend zur WM in Russland, um Fußball.