Ingolstadt
"Kinder ahmen nach, was sie sehen"

Die Entwicklungspsychologin Prof. Katja Seitz-Stein über Kindolstadt, Vorbilder und Erwartungen

08.06.2016 | Stand 02.12.2020, 19:42 Uhr

Die Bewohner von Kindolstadt sind zwischen 7 und 13 Jahre alt. Sie haben ihre Stadt nach ihren eigenen Vorstellungen gestaltet. Dabei orientierten sie sich stark an der Welt der Erwachsen. Weitere Nachrichten aus Kindolstadt im KLENZE-KURIER auf Seite 32. - Foto: Hauser

Ingolstadt (DK) Geld, Arbeitsamt, Bank und Regierung - in Kindolstadt gibt es vieles, was es auch außerhalb der künstlichen Kinderstadt gibt. Dabei hätten sich die Bewohner ihre Welt auch ganz anders bauen können. Das taten sie nicht. Für Experten wie Katja Seitz-Stein, Professorin für Entwicklungspsychologie an der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt, ist das wenig überraschend.

Die Kinder haben Kindolstadt nicht als Pippi-Langstrumpf-Anarchie, sondern als Kopie der Erwachsenenwelt angelegt. War das zu erwarten?

Katja Seitz-Stein: Vor dem Hintergrund einer ganzen Reihe von Theorien aus der Entwicklungspsychologie ist das etwas, was man durchaus erwarten konnte. Es gibt etwa die soziokulturelle Theorie, die sagt, dass wir, was und wie wir denken, durch unseren Kontext lernen. Und Kindolstadt ist offensichtlich ein ganz schöner Beleg dafür. Das, was ihnen bekannt ist, haben die Kinder wieder generiert. Aber es gibt noch andere Theorien. Der Modellcharakter zum Beispiel: Kinder ahmen nach, was sie sehen.

 

Ein Kind hat gesagt: "Ich bin froh, dass ich endlich arbeiten gehen kann wie meine Eltern."

Katja Seitz-Stein: In Kindolstadt sind Kinder ab sieben Jahren. Das fängt aber schon früher an. Nehmen sie den kleinen Jungen, der zu Hause einen Stock greift und mit dem, während Vater oder Mutter saugt, parallel das Gleiche tut. Das heißt, Kinder tun fortwährend Dinge, wie sie die Großen tun. Selbst die Kleinsten schon. Das kann man auf die Situation von Kindolstadt übertragen.

 

Schon am ersten Tag gab es in Kindolstadt einen Bankraub und Diebstähle. Mittlerweile ist Falschgeld in Umlauf. Sind Kinder doch nicht besser als Erwachsene?

Katja Seitz-Stein: (lacht) Naja, vielleicht muss man auch einmal fragen, wo die Erwartungen der Erwachsenen herkamen. Die Vorstellung einer heilen Kinderwelt, dass die Kinder sich alles bunt machen und so weiter. . .

 

Grönemeyer hat gesungen: "Gebt den Kindern das Kommando." Das wäre also nicht zwingend eine bessere Welt?

Katja Seitz-Stein: Das kommt darauf an, unter welchen Bedingungen die Kinder das tun und natürlich, was für Kinder das sind. Ich glaube, es gäbe da spannende Experimente, etwa die Frage, was passiert, wenn man Kinder zusammenpackt, die ganz unterschiedlich sozialisiert sind. So lange Kinder relativ ähnlich sozialisiert sind, ist wohl zu erwarten, dass sie ganz ähnliche Dinge tun, wie das Umfeld, in dem sie sozialisiert wurden.

 

Könnte das auch der Grund dafür sein, dass einige Kinder beim Bürgeramt von Kindolstadt Hartz IV beantragen wollten, weil sie keine Lust auf Arbeit hatten?

Katja Seitz-Stein: Möglicherweise. Aber man weiß nicht, ob es im Umfeld - also Vater, Mutter, Tante oder Onkel - jemand gibt, der Hartz IV bekommt oder ob das möglicherweise aus Gesprächen rausgeholt wird, die Eltern über Hartz IV-Empfänger führen.

 

Den Kindern war es auch ein Bedürfnis, die Ehe einzuführen. Der Kinderrat musste entscheiden, wie sie geschlossen wird. Am zweiten Tag wollten dann zwei Mädchen heiraten, was offenbar für die Kinder keine Diskussion war. Sie scheinen also in dieser Sache gar nicht konservativ zu denken.

Katja Seitz-Stein: Ja. Wobei man auch hier nicht eindeutig sagen kann, was dahintersteckt. Ob das etwa eine noch nicht ausdifferenzierte Geschlechterrolle ist... Es könnte aber auch sein, dass es da einfach andere Vorbilder gibt.

 

Kann man von Kindolstadt etwas lernen? Oder ist es nicht mehr als ein großes Spiel - was ja auch schon etwas wäre?

Katja Seitz-Stein: Das habe ich mich auch gefragt (lacht). In Kindolstadt können die Kinder zwar alles gestalten, sind aber de facto doch nur ein paar Stunden da. Das hat mit der realen Lebenssituation deswegen nur ganz wenig zu tun. Es sind für die Kinder die paar Stunden, ansonsten haben sie einen ganz klaren Lebensweltbezug. Das heißt, für die Kinder ist es ein Spiel. Die Situation wäre anders, wenn man deutlich mehr als nur das Spiel bewerkstelligen müsste, sich tatsächlich organisieren, Dinge regeln.

 

Maria Mayer, die Projektleiterin von Kindolstadt sagt, Erwachsene könnten aus Kindolstadt lernen, dass man Kindern mehr zutrauen kann, darf und soll. Ist es tatsächlich so, dass Kinder von den Erwachsenen oft unterschätzt werden?

Katja Seitz-Stein: Dass wir gerade in unserer heutigen Gesellschaft - zumindest partiell - Kinder zu stark begrenzen, davon ist wohl auszugehen. Darüber kann man sicher diskutieren. Man muss aber auch die Gegenfrage stellen: Wie viel wollen Kinder überhaupt nehmen? Es ist immer wichtig, auch diese Perspektive ins Spiel zu bringen. Wenn man Kindolstadt betrachtet, könnte man ja offenbar zu dem Ergebnis kommen: Kinder wollen gar nicht Verantwortung für etwas ganz anderes als sie es von der Erwachsenenwelt kennen, übernehmen. Unabhängig von Kindolstadt kann man aber gesamtgesellschaftlich wohl schon sagen, dass wir gut daran täten, Kindern mehr zuzutrauen.

 

Die Fragen stellte Johannes Hauser.